Das Foto des Jahrhunderts.
copyright by Jan Maaß 2005
Man wacht auf und denkt, man hat geträumt. Aber eigentlich weiß man, dass man nicht geträumt hat. Man ist sich nicht sicher, worauf dieses Gefühl beruht. Wenn man aus einem Traum aufwacht, dann hat man zumindest den Eindruck als wäre eine lange Zeit vergangen, selbst dann, wenn man gar nichts geträumt hat. Selbst die undurchsichtige Schwärze hat Zeit. Aber hier und jetzt?
Diese Schwärze ist völlig zeitlos. Alles hat sich auf einen undefinierbar kleinen Punkt zentriert. Auf ein unerfassbares Nichts. Und diese trübe Benommenheit macht es ihm nicht leichter, zu verstehen, was mit ihm los ist. Und warum bleibt es dunkel, obwohl seine Augen schon offen stehen? Und warum ist die Luft hier drinnen so schwer? Drinnen? Woher weiß er, das er irgendwo drinnen ist? Oder besser gesagt: steckt? Festgeklemmt? Er will sich bewegen, nur ein kleines Stückchen, den Hals recken, sich umsehen, obwohl es ja nichts zu sehen gibt. Und dann durchzuckt ihn ein Schmerz im ganzen Körper. Er hat keine Luft, um zu schreien, er ächzt nur. Aber der Schmerz holt ihn vollends in die Realität zurück, die Benommenheit blättert so abrupt von ihm ab, als hätte wer das Licht ein und ausgeschaltet. Das ist schon fast unheimlich. Und jetzt weiß er, wo er ist, oder wo er eben noch war. Madrid. Er ist in der U1. Er war in der U1?
Und wo bin ich jetzt?
Wenn nur diese Dunkelheit nicht wäre. Und dieses Ding, was gegen seinen Bauch drückt.
Ding?
Seine Arme kann er bewegen und er fummelt nun nervös an seinem Bauch herum. Ihm wird ganz übel, als er merkt, dass da nicht etwas gegen, sondern in seinen Bauch drückt. Es ist rund, kalt und unglaublich glatt. In der nähe seines Bauches blättert unter seiner Hand etwas herunter wie vertrocknetes Pergament. Ein Rohr, eine Stange, eine Verstrebung. Was es auch ist, es steckt in seiner linken Bauchdecke und nagelt ihn förmlich mit den Rücken an der Wand fest. An der schrägen Wand, denn er glaubt, dass liegt. Nicht in der horizontalen, sondern eher in einem Winkel. Wenn er raten müsste, würde er sagen, genau 45 Grad. Aber er muss nicht raten. Warum sollte es ihn interessieren, wie er liegt? Er sollte sich darum kümmern, warum er hier in der Dunkelheit liegt, mit einem Eisenrohr im Bauch, das ihm bei jeder Bewegung einen stechenden Schmerz bis in die Haarspitzen jagt.
Ein stechender Schmerz. Ist das nicht schon fast ironisch?
Seine Füße haben festen Grund unter sich, er muss sogar die Knie ein wenig anwinkeln, weil er sich nicht strecken kann. Aber er kann die Beine grätschen und macht es, bis er rechts gegen etwas hartes und unverrückbares stößt. Der linke Fuß dagegen hat sämtliche Freiheiten. Falls man in seiner Situation von Freiheit sprechen kann. Nur etwas völlig Undefinierbares liegt da im Weg. Es klappert hohl, wenn er dagegen tritt, aber er kann es verschieben. Jetzt probiert er auch die Arme auszubreiten. Rechts dasselbe Spielchen. Mit den Fingerkuppen streicht er über die Oberfläche der Barriere. Kalter Stein. Das gleiche Material, auf dem er in einem 45 Gradwinkel liegt. Und links hat er wieder Platz bis ins Nichts. So. Nun nach vorne. Er streckt die Arme aus und versucht die Stange in seinem Bauch zu vergessen. Auch vor sich hat er scheinbar Platz ohne Ende, bis seine Hand auch dort vielleicht einen Meter vor sich wieder über eine gerade Steinfläche streichelt.
Und dann kommt ganz langsam die Erinnerung.
Ich bin ein Tourist. Ein Tourist in Madrid. Nein, kein Tourist! Ich bin Schüler! Schüler auf Klassenfahrt in Madrid. Ich bin also auf Klassenfahrt in Madrid, mit allen meinen Klassenkameraden und wir haben die U-Bahn genommen, um vom Flughafen unsere Herberge zu erreichen. Bin ich immer noch in der U-Bahn?
Natürlich, wo sollte er denn sonst sein? Er ist ja nicht ausgestiegen. Niemand war ausgestiegen. Sie saßen alle fröhlich scherzend in der Bahn, haben den dicken Thomas geärgert, vom Lehrer einen mahnenden Zeigefinger kassiert, drüber gelacht und dann kam die Decke runter und alle Lichter gingen aus. Gab es auch einen Knall? Einen Knall und einen Feuerball? Weder noch. Nur einen weißen, grellen Blitz, der alle aufschrecken ließ. Genau so war es!
Ich saß mit Jonathan, Dragan und Stefan in einer Vierergruppe. Links von uns saßen die geilen Ischen, wie die Hühner auf der Stange und über jeden dummen, aber auch noch so dummen Witz, von uns viel zu laut lachend. Wir haben rumgekaspert, uns Digga genannt, ne leere Plastikflasche quer durch den Wagon geschmissen und volles Rohr den dicken Freak von Thomas an der Murmel erwischt, damit er endlich die Klappe hält, wie viele Punkte er bei so nem Scheiß-Internetrollenspiel hat, dass er Swordman wäre und blablabla. Dann kam der mahnende Finger von Schröder, ner Witznummer mit Jackett und Schlips. Sogar Lederflicken hat er auf den Ellenbogen. Wie peinlich. Und wir haben ihn ausgelacht und die Ischen haben sich darüber wieder beömmelt und gegackert, besonders diese Jasmin, dieser Bettvorleger, diese Fickmatratze, die mit so ziemlich allen von uns in der Kiste war und sicherlich ne Strichliste führt. Und wenn sich nicht Neues ergeben sollte, hätte sie sicherlich noch den Freaks irgendwann mal ihre echten, anstatt nur deren sonstigen virtuellen ****** gezeigt.
Genug, genug, genug! Es ist der völlig falsche Zeitpunkt, über die anderen abzulästern. Er sollte sich besser um sich kümmern. Und darum, wie er sich befreien kann.
Gar nicht. Wie denn auch? Soll ich die Stange durchschneiden? Womit? Mit meinem Springmesser im Rucksack?
Wie lange liegt er überhaupt schon da? Wie lange war er bewusstlos?
Unerheblich. Ich krepier doch sowieso hier. Mir ist ja jetzt schon ganz schwindelig, vor Durst.
Durst. Wasser, leere Plastikflasche, Rucksack. Im Rucksack ist noch eine volle. Im Rucksack neben seinem linken Fuß.
Nur toll, dass ich mich nicht bücken kann.
Bück dich, Jasmin, bück dich für mich...
Er könnte seine Beine benutzen, den Riemen erwischen und das Ding dann irgendwie nach oben hebeln. Er streckt den Fuß aus und sucht in der Finsternis nach dem Rucksack. Er kann ihn relativ gut ertasten, so gut, dass er sogar ziemlich darüber staunen muss. Dann spannt sich etwas über seiner Schuhspitze. Der Riemen. Es muss der Riemen sein. Er winkelt das Bein an und zieht den Fuß nach oben. Er spürt das Gewicht, es klappt. Als er nicht mehr höher kommt, angelt er mit der linken Hand nach dem Rucksack und bekommt ihn tatsächlich zu fassen.
So macht man es. So überlebt man, Leute. Was bin ich nur für ein Glückspilz.
Er positioniert den Rucksack auf seiner Brust und die Stange in seinem Bauch verhindert, dass er wieder runter fällt. Ist das Mistding doch tatsächlich zu etwas zu gebrauchen. Er findet den Reißverschluss und öffnet ihn behutsam. Sein Bauch bleibt erstaunlich ruhig. Dann stöbert er ein wenig herum, findet die Plastikflasche dreht den Verschluss auf und führt sie zum Mund. Er zwingt sich, nicht zu viel zu trinken. Er weiß ja nicht wie lange er davon überleben muss. Er dreht sie zu und will sie zurückstecken, als er etwas hört. Er verharrt regungslos mit der Flasche in der Hand. Da ist das Geräusch wieder. Ein leises, unscheinbares Klicken. Irgendwo unter ihm. Und noch einmal. Jetzt ist kein Klicken, es ist eher ein Plicken.
Gott, bitte nicht.
Er ahnt nichts Gutes. Licht, er braucht Licht! Wo bekommt er Licht her? Schade, dass sie aus dem Alter der Nachwanderungen raus sind. Dann hätte er ne Taschenlampe dabei. Wo hat er noch Licht? Sein Handy, natürlich! Sein Handy in der rechten Schenkeltasche. Dass ist er da nicht früher drauf gekommen ist. Er öffnet die Schenkeltasche und greift nach dem Handy, klappt es auf drückt eine beliebige Nummerntaste und schon leuchtet das Display im matten Blau. Sein SonyEricsson hat ihm noch nie im Stich gelassen, freut er sich. Hier muss man sich auch über alles freuen. Aber das Licht ist letzten Endes so schwach, dass es kaum ausreicht um auch nur etwas deutlicher zu sehen, wie es um ihn herum ausschaut. Er muss es ganz dich vor den Gegenständen halten, die er sehen will. Und so tastet er sich mit seinem Handy ab, etwas, dass er auch niemals im Entferntesten in Erwägung gezogen hätte, wäre er jetzt nicht hier. Nacheinander erscheinen so Wasserflasche mit verschmutzter Hand, ein völlig verdrecktes Nikeshirt (eine Jacke trägt er nicht, weil es draußen... draußen, welch unglaublich entferntes, irreales Wort, was ist schon draußen... so heiß ist) und dann wird es blutig um seinen Bauch herum. Und dann sieht er, dass er leckt. Er läuft regelrecht aus. Das Wasser, dass er eben noch getrunken hatte, läuft über seine Hose über den Beton und verliert sich in der Dunkelheit. So weit runter kann er nicht schauen, dafür ist das Licht zu schwach. Aber er ahnt, wo dieses hohle plickende Geräusch herkommt. Ganz unten muss es eine Kante geben. Er tastet mit den Füßen danach und findet sie. Dort fällt das Wasser einige Zentimeter runter und plitscht unten auf. Und dann wird ihm klar, was mit ihm passiert.
Ich laufe aus, bei Gott, ich laufe doch tatsächlich aus. Ihm wird noch schwindeliger als es ihm ohnehin schon ist. Wasserflasche und Handy gleiten ihn aus den Händen, schlittern die Bentonrutsche hinab und landen schließlich neben seinen Schuhen. Unerreichbar. Fast wäre auch noch der Rucksack zu Seite gefallen und in die Tiefe gestürzt, aber den erwischt er gerade noch so. Ihm wird wieder etwas klarer und er rollt mit dem Kopf hin und her. Von unten dringt ein ganz schwacher, unheimlicher Lichtschimmer nach oben. Das Handy ist noch an, doch bald wird es sicher automatisch ausgehen. Kaum hat er den Gedanken zu Ende gebracht, ist es wieder stockdunkel.
Nachdenken, nachdenken. Was kann man tun? Als aller erstes Ergebnis seiner Nachdenkphase erhält er, dass er sich keine Gedanken darüber machen sollte, wie es möglich ist, in so eine Position gekommen zu sein. Wenn die U-Bahn Komplett einstürzt, wird man da nicht zerquetscht? Wie kann er mit seinem Rücken auf Beton liegen? Es ist egal, er lebt. Er hat eine Stange im Bauch, läuft aus, aber er lebt. Und es ist auch egal, was passiert ist. Scheißegal ob Anschlag oder Unfall. Es ist passiert und er sitzt in der Kacke. So sieht aus Leute. Und was ist mit dem Rest? Mit Dragan und Co, mit den Hühnern auf der Stange? Mit den Freaks? Gibt es weitete Hohlräume? Vielleicht sollte ich einmal rufen...
„HALLO!“
Er muss husten und spuckt auch etwas Blut mit aus. Die Luft ist zu schwer um groß rumzubrüllen. Und eine Antwort erhält er auch nicht. Er geht davon aus, dass die anderen tot sind. Er hat zwar keine eindeutigen Hinweise darauf, aber er kann es spüren. Sie sind alle zerquetscht. Ganz bestimmt sind sie alle zerquetscht und nur er ist noch übrig um als einziger qualvoll zu krepieren. Langsam und schmerzhaft.
Na, ich habs ja eigentlich auch nicht anders verdient, denkt er. Sein Nikeshirt, dass sich ganz blutig gefärbt hat, ist jedenfalls keine eigene Investition gewesen. Das hat ihm ein Achtklässler bezahlt und als Dank trotzdem ein paar auf die Schnauze gekriegt. In Jasmin war er auch schon drin und das gleich dreimal, während er jedes mal eigentlich schon fest vergeben war. Aber was bedeutet in der heutigen Gesellschaft schon fest?
Moment mal? Nicht besser verdient? Was ist mit Dragan, Jonathan und Stefan?
Die sind noch viel Schlimmer als ich!
Besonders Jonathan, der Kleinste von ihnen, ist/was ein richtiges *********. Es sind immer die kleinsten Hunde, die am lautesten bellen, oder? Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Drogendealer. Einmal hat er einen Mercedes SLK aufgebrochen fuhr damit durch Blankeneese, erwischte mit dem Vorderreifen noch ne Katze, wie er behauptet hatte, und setzte die Karre anschließend gegen einen Laternenpfahl. Unglaublich, dass er nicht erwischt wurde. Wie stolz er damals besonders von der Katze berichtet hatte. Wie er am nächsten Tag wieder an den Ort des Verbrechens zurückgekehrt wäre und sich niemand die Mühe gemacht hätte, den Kadaver zu entfernen.
„Genau über ihren Schädel bin ich gerollt“, hatte er gesagt und steckte sich auf dem Schulhof ne Zigarette an, „Das habt ihr noch nicht gesehen. N zerdrückter Vogel oder Igel ist nichts dagegen. Total grotesk, Mann. Der Kopf platt und nur noch ein Brei und der Rest voll in Ordnung, Digga.“
Warum sollte ich mehr leiden als, der? Jonathan hatte direkt vor ihm gesessen, als es passierte. Dort, wo jetzt der Betonklotz ist. Jetzt ist Jonathan platt. Er wünschte es wäre auch mit ihm schon vorbei. Er denkt gar nicht daran, dass es vielleicht entfernt eine Möglichkeit der Rettung gebe. Er hofft es zwar, aber was soll man schon tun, wenn so ein Schacht einstürzt? Bis man sich da durchgebuddelt hat, vergehen doch Tage. Und Tage hat er nicht. Und überhaupt. Wenn sie schon nahe wären, würde er dann nicht schon Gedröhne und Gerumpel von Maschinen und Baggern und sonst was hören? Aber es ist still, absolut still.
Aber ich will nicht sterben.
Er kann sich vorstellen, wie aus aller Herren Länder die Fernsehteams ihre Objektive auf den Unglücksort richten. Wie diese Grottenzucht von Menschen allesamt auf den Fernseher gaffen und ganz geil dabei werden, wenn sie hören, dass es bestimmt zweihundert Tote gegeben hat. Wie schön, dass das Leben doch nicht so langweilig wie Lindenstraße ist. Wie schön, dass noch Menschen sterben.
Objektive.
Er hat eine absurde Idee. Hastig fummelt er in dem Rucksack rum erwischt schließlich das, wonach er sucht, dass was er braucht um denen zu geben, wonach sie verlangen. Die Canon EOS 3000N. Die anderen hatten ihn ausgelacht, warum er ausgerechnet das schwere Teil durch Madrid mit sich rumschleppen wollte und er meinte, er wolle gute Fotos machen. Und sie hatten gefragt, wovon er die bezahlt hätte, bei arbeitsloser Familie und eigener chronischer Joblosigkeit. Und er hatte gesagt, ein paar aus der Siebten und der Achten hätten für ihn zusammengelegt und dann hatten sie genickt und gelacht. Aber er hatte gelogen. Er wollte vor den anderen nicht doof dastehen. Denn niemanden hatte er dafür ausgenommen. Das hier ist kein Nikeshirt. Das hier sollte mal seine Zukunft werden. Jeder Mensch hat einen Traum. Jeder will mal etwas aus sich machen und wenn man akzeptiert, dass die Gesellschaft einen ausgrenzt und den Kuchen des Erfolges für sich alleine haben will, da gerät man in die Abwärtsspirale aus Frust, Hast, Belustigung und einem absurden Machtgefühl, wenn man Kleinere zusammenhaut. Aber er hatte die Hoffnung nie ganz aufgegeben. Er wollte schon immer Fotograf werden und für die Canon hat er ein ganzes Jahr gespart. Er hat einen Extratopf in seinem Regal, in den er nur ehrlich verdientes Geld gesteckt hat. Von Pfandflaschensammeln bis extrem spärliches Taschengeld. Er fand und findet es noch immer richtig, so gehandelt zu haben. Er weiß nicht warum, aber die Canon wollte er ehrlich verdienen. Das war ihm damals sehr wichtig gewesen.
So böse bin ich gar nicht. Nicht so böse wie die anderen. Herrjeh, ich bin nur ein erbärmlicher, frustrierter Mitläufer.
Er klappt den Blitz hoch und dreht am Einstellrad von Off eine Position weiter auf Automatik. Er weiß, dass er noch mindestens zwanzig Fotos auf dem Film hat. Der Blitz heult leise, als er sich aufläd, bis das Gehör den Piepton nicht mehr wahrnehmen kann. Er drückt auf den Auslöser. Der Blitz tut in den Augen weh und pocht hinter den Schläfen. dann wartet er, wie sich der Blitz wieder aufläd.
Vielleicht ist es ein Geschenk, dafür, dass ich einmal wirklich ehrlich war, dass ich nun die besten Fotos meines Lebens schießen darf.
Er schüttelt den Gedanken sofort ab. Das ist einfach zu sentimental. Er lebt noch, weil er Glück im Unglück gehabt hatte. Mehr nicht. Es gibt keinen Gott und fertig. Es gibt nur die Masse, die vor dem Fernseher sitzt und so gerne zusehen würde, wie er hier unten langsam stirbt. Sollen sie doch kriegen, was sie haben wollen. Er verschwendet fünf Fotos an seine Umgebung. Dann beginnt er sich selbst zu fotografieren. Drei Mal. Er bemüht sich dabei, völlig ausdruckslos zu sein. Er würde gerne den Mittelfinger ins Objektiv halten, doch er lässt es. Dann schlägt ihm etwas ins Gesicht. Es muss ein Steinchen sein. Die Betonplatte unter ihm beginnt zu zittern. Auch die Stange vibriert. Sein Bauch fängt an zu kreischen. Und er kreischt mit. Er kann sich nicht daran erinnern, jemals im Leben so gebrüllt zu haben. Es quietscht, die Stange biegt sich und reißt seinen Bauch weiter auf. Irgendwas fällt aus ihm raus. Und er kann nichts tun, als zu heulen und sich weiter zu Fotografieren, bis alles noch schwärzer und dunkler wird.
Als er das zweite Mal zu Bewusstsein kommt, ist er sofort klar bei allen Gedanken. Er weiß sofort was passiert ist und wo er ist. Und dass, obwohl sich die Schwärze wieder auf null reduziert hat. Seine Hand ist leer und er fängt an zu schreien.
„Wo ist sie? Wo ist sie?“, wie klar die Luft ist. Etwas rauscht. Licht?
Eine Hand drückt sich auf seine Brust und eine Stimme spricht ihm etwas Unverständliches aber Beruhigendes zu.
Ich verstehe doch kein Spanisch, du Trottel, von... was bist du überhaupt?
Da ist noch einer in seinem Loch. Er kniet vor ihm, wo vorhin noch der Betonklotz war. Man hat ihn vielleicht zur Seite geschafft. Die Stange steckt noch immer in seinem Bauch, aber sie hört wenige Zentimeter über der Bauchdecke auf. Einer von den beiden hier unten muss sie abgesägt haben. Und was machen sie nun? Das Licht kommt jedenfalls aus zwei Leuchtröhren, das Rauschen kommt aus einem gräulichen Rohr. Sie pumpen Luft hinunter. Aber wo ist die Canon? Er schaut nach oben. Ein greller Lichtkreis. Es ist so, als würde in einem tiefen Brunnen sitzen und nach oben sehen. Von dort müssen sie gekommen sein. Er stellt sich nicht die Frage, woher sie wussten, wo sie graben mussten, um ihn zu finden, er stellt sich nicht die Frage, wie lange es gedauert hat, ihn zu finden, wie lange er wieder weg war und was das für ein ekelhafter Geschmack auf seinen schroffen Lippen ist. Nur die Canon ist wichtig.
„Allemania“, ruft er dem Mann neben sich zu, der ihm die Hand auf die Brust gelegt hat. Der Mann nickt. Er trägt einen weißen Schutzhelm. Das Gesicht wirkt im fahlen Licht wie in Stein gemeißelt.
„Foto!“, ruft er.
Der Mann nickt nicht. Er spricht ihm wieder auf spanisch etwas zu.
Ich versteh doch kein Spanisch!
Und dann schreit er auf. Ein schier unglaublicher Schmerz, noch gemeiner und fieser und brüllender als die Stange in seinem Bauch Es schüttelt ihn durch. Ein kreischendes Geräusch mischt sich in seinen Schrei. Ihm wird wieder ganz duselig. Der Mann klatscht ihm zweimal mit dem Handrücken ins Gesicht und er schafft es, dieses Mal bei Bewusstsein zu bleiben. Der Schmerz hört nicht auf. Er pocht irgendwo an seinem Bein. Nun merkt er auch, dass er nicht mehr im 45 Gradwinkel liegt, sondern ganz flach auf dem Boden. Das muss es sein. Bei den Grabungen hat sich alles verrückt, ist eingestürzt und... aber er hatte doch nichts gehört. Kein Grummeln, kein Rumoren. Da war nichts gewesen, als alles zu zittern anfing. Und dann? Wehe, wenn ein Betonklotz auf die Kamera gefallen ist. Wehe! Er dreht den Kopf von rechts nach links. Da ist sie. Nur einen Meter links von ihm. Dort liegt auch die Wasserflasche, die ihm entglitten war. Er greift nach der Canon aber der Mann hält seinen Arm fest.
Er will was sagen, wenigstens auf English, aber ihm fällt in seiner Verwirrung einfach kein Wort ein. Er will noch mal nach der Canon greifen und nun ist er schneller als der Mann. Er presst die Kamera an die Brust, der Mann sagt wieder etwas und nun schreit plötzlich sein linkes Bein auf. Er schreit wieder mit und drückt auf den Auslöser. Er fotografiert sich dabei, wie man gerade sein linkes Bein amputiert. Er weiß nicht, wie es passiert es, wie er eingeklemmt wurde. Am Anfang waren seine Beine noch frei gewesen. Er hatte den Rucksack mit seinen Beinen... Wieder wird ihm schwindelig und wieder verhindert der Mann die Ohmnacht mit wohl dosierten Schlägen auf die Wangen.
Wenn ich ohnmächtig werde, bin ich tot, denkt er. Die Welt dreht sich, der helle Fleck über ihm kommt näher und entfernt sich dann wieder. Der Mann will ihm die Kamera wegnehmen, er schlägt ihn auf den Handrücken. Er muss drei Mal zuschlagen, bis man ihn endlich versteht.
„Vale“, sagt der Mann und hebt die Hände entschuldigend. Der Rest passiert wie in Trance. Er scheint zu schweben und merkt nur beiläufig, wie man ihn noch oben zieht. Ob an Gurten oder ob sie ihn Tragen, kann er nicht feststellen. Und als dann neue Hände nach ihn greifen und er vollends nach oben gezogen wird, schlägt ihm das Licht wie ein Vorschlaghammer ins Gesicht. So muss sich der Junge aus der Achten gefühlt haben, der ihm sein Shirt finanziert hat und von da an beschließt er, nie wieder gemein und böse zu sein. Aber das hat nichts mit seiner Rettung zu tun oder einer eventuellen Läuterung in dem dunklen Loch tief unter der Erde. Er hat es beschlossen, einfach so aus heiterem Himmel, so plötzlich und grundlos, wie, als alles plötzlich zu zittern angefangen hatte. Jemand legt eine Decke um ihn und plötzlich geht es erneut aufwärts. Er sitzt auf einer Trage, die nun angehoben wird. Mit der Stange im Bauch will er nicht liegen, er will aufrecht sitzen, denn dann tut es nicht so weh. Die Canon liegt in seinem Schoß. Er wird davongetragen und seine Augen gewöhnen sich langsam an die unerträgliche Helle. Um ihn herum sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Rechts von ihm, hinter einer Absperrungsleine und wuselnden Polizisten, glotzen ihn hunderte Objektive an. Fotoapparate, TV-Kameras. Er dreht die Kamera auf die Journalistenschar und drückt ab.
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