Auf den allerallerersten Seiten wurde Giorgio vorgestellt und ich war ganz kurz sogar amüsiert - bei dem Namen muss ich sofort an Giorgio Moroder, dem Großvater der Disko, denken.
Selbstverständlich verging mir das Lachen sehr schnell, als Belfores Misshandlung durch Giorgio wirklich sehr detailliert gezeigt wurde - da sind definitiv zwei Gründe für das 18+-Rating vorhanden.
Am Anfang gibt es ja ein Vorwort, das als Art historische Hinführung und
statement of intent dient - klasse! Es wird angemerkt, dass ein Jahr allein für Recherche genutzt wurde - und das merkt man! Besonders in Sachen Mode und historischen Randerscheinungen, die in der Geschichte besprochen werden.
In Sachen Hermaphroditismus ist natürlich, wie das Vorwort ganz richtig sagt, wichtig, den historischen Kontext zu beachten.
Ich dachte immer, beim Menschen tritt das, was man damals 'echten' Hermaphroditismus nannte, nicht auf, sondern nur Pseudohermaphroditismus, (heutzutage würde man natürlich Intersex sagen - die Begriffe sind veraltet, aber ich nutze sie zur Unterscheidung und im Kontext) aber ich habe
ein bisschen recherchiert (Artikel ist nicht öffentlich aufgerufen werden, aber auf der ersten Seite steht schon Interessantes) und herausgefunden, dass es tatsächlich ein paar Einzelfälle von Menschen, die beide Arten von Keimzellen produzieren und somit biologisch als Zwitterwesen gelten. Faszinierend! Wieder was gelernt - immer ein besonderes Plus, wenn Lesen einen Lerneffekt hat.
Ich war mir nicht ganz sicher, mit was Giorgio Belfores Rücken näht - es sah nach etwas Hartem aus. (Eine Art Keratin?)
Wikipedia meint, dass ab 1400 Federkiele zum Wundennähen verwendet wurden und ich bin einmal mehr froh, in der Moderne zu leben.
Kritisieren würde ich ein wenig den Einsatz von Laudanum um 1549 - klar, es war damals schon von Paracelsus erfunden worden, aber praktisch niemand benutzte es. Im Medizinischen wurde es ca. 100 Jahre später populär und seine Blütezeit als Droge hatte es im Regency- und viktorianischen England. (Hab' Schmerzmittel mal als Thema eines Chemiereferats gehabt und in Romanen zu der Zeit kommt es auch öfters vor ^^)
Es ist nicht unmöglich - Giorgio ist am Puls der Zeit, was Medizin angeht, deswegen macht das überhaupt nicht viel aus, aber ich halte es doch für etwas unrealisitsch, dass er das Zeugs benutzt hat. Na ja, das 16. Jhd. ist auch nicht die Epoche, von der ich am meisten weiß - kann da gut und gerne falsch liegen.
Zeit für mehr Lob! Der Zeichenstil ist überwiegend sehr gelungen - besonders in Hinblick auf Architektur und Kleidung - bei der Mimik gibt's kleinere Schwächen.
Und ich liebe es, dass ein paar italienische Phrasen verwendet wurden und nicht extra übersetzt werden - da fühlt man sich als Leser ernst genommen.
MAnche Phrasen und einzelne Wörter schienen etwas zu modern im Vergleich zum sonst eher bewusst alt gehaltenen Schreibstil, hat aber nicht groß gestört.
Jetzt aber zu den Charakteren: Die Geschichte hörte sich zuerst nach einem klassischen Liebesdreieck an - die Befürchtung hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Es gibt ganz klar eine gute Beziehung (Harlow-Belfore) und zwei schlechte. (Belfore-Giorgio, Giorgio-Harlow)
Was Giorgio mit Belfore anstellt, ist praktisch child grooming - und das wird klar negativ aufgezeigt, (Toxisch ist da fast noch untertrieben) wärend Harlow klar einen guten Einfluss auf Belfore ausübt.
Ich mochte Harlow und Belfore praktisch von Anfang an zusammen - nicht nur die ernsten Momente wie ihre Gespräche über sexuelle und andere Gewalt, sondern auch die leichteren, humorvollen Szenen. "Du denkst, ich breite meine Lebensgeschichte vor dir aus? Und das nur, weil du dich in mein Bett drängst?" "Du würdest dich wundern, wie oft das klappt!"
Die Mitte des Bandes ist vergleichsweise unbeschwert - schöne Montage vom Karneval.
Die beiden haben Spaß und liefern sich trotzdem Wortgefechte, was bei mir immer ein Pluspunkt ist - meine Lieblingsautorin sagt Hi.
"Im Gegenteil. Du bist Alles!" Hach, da wird der Manga sogar richtig süß - die Sorte Kitsch, die ich liebe~.
Gegen Ende wird sogar noch eine Actionszene geboten und anders als in so manchem Actionmanga habe ich hier richtig mitgefiebert, weil ich so in die Beziehung investiert war. Hab' richtig nach Luft geschnappt.
Das Ende an sich ist ein ganz klares Happy End - der Gegenspieler ist tot, niemand der beiden wurde belangt, es gibt ein großes Erbe und die beiden bleiben glücklich zusammen. Mein innerer Sauertopf denkt, dass das Ende fast ein wenig zu glücklich war und das Ende wohl durch die rosarote Brille des Verknalltseins geshen wird, aber nein, ich bin zufrieden.
Dazu: Ein weiteres Thema des Bandes ist die Auseinandersetzung von Religion und Wissenschaft. Besonders im Hinblick auf Religion wird sehr differenziert vorgegangen. Wenn man einen BL zeichnet und Religion vorkommt, ist es immer einfach ins Schwarz-Weiß-Denken abzugleiten, deswegen fand ich's schön, dass hier nicht total dämonisierend, sondern eher ironisch im Sinne "Der große Bruder, den man gerne nervt, indem man das Gegenteil von dem tut, was er sagt" und generell ambivalent (Am Ende wollen sie ja zusammen den Gottesdiesnt besuchen - insgesamt wird Erkenntnis schlimmer Zustände, aber auch Hoffnung auf Rekonziliation deutlich) mit der Kirche umgegangen wird - das hat man halt selten.
Oh ja, und die Bonusseiten waren toll wie sie's meistens sind! Besonders interessant: Wie sieht ein Manga-Manuskript aus?
Aber auch: 12 Jahre später! Überraschende Farbskizzen! Mode! Und Rüstungen!
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