Hallo zusammen,
vor kurzem sind die Wahlen auf Bundesebene in Deutschland zu Ende gegangen und dieser sie begleitende mediale Trubel hat mir einen Titel in Erinnerung gerufen, der mir auch nach vielen Jahren noch als sehr lebendig und mitreissend vor Augen ist, darum habe ich mich entschieden, ihn hier vorzustellen.
Sanctuary (dt. "Zuflucht") von Fumimura Shō (Autor) und Ikegami Ryōichi (Zeichner)
erschien beim Verlag Shōgakukan
Erscheinungsjahr: 1990
Abgeschlossen in 14 Bänden
Inhaltsangabe:
Hōjō Akira ist ein eloquenter, charmanter junger Mann, dem man auf den ersten Blick gar nicht zutrauen würde, ein rasant aufsteigender Yakuza-Boss in der Unterwelt Japans zu sein. Asami Chiaki dagegen ist ein fleißiger und ergebener Sekretär eines mächtigen Parlamentariers der liberal-demoraktischen Partei Japans, den man mit seinen perfekt sitzenden Anzügen, der höflichen Art und der strengen Brille weit entfernt von dem gewalttätigen Morast der Organisierten Kriminalität vermuten würde. Tatsächlich jedoch verfolgen die beiden Männer ein und dasselbe Ziel - nicht nur das, sie verfolgen es gemeinsam, in Zusammenarbeit. Diese beiden Männer wollen das bestehende, rigide Gesellschafts- und Politiksystem Japans zerschlagen, die lethargische Bevölkerung wachrütteln und in eine erfolgreiche Zukunft führen. Der eine aus dem Schatten der Unterwelt, der andere im Licht der Scheinwerfer politischer Prominenz.
Kurze Anmerkung:
Ich finde, alleine die Rahmenhandlung in ein paar wenigen Sätzen gepresst, klingt schon wahnsinnig verlockend. Ein Unterweltboss und ein Politiker jagen mit ungeheurer Geschwindigkeit, mit viel List und Strategie und einer gehörigen Portion Idealismus durch die Hierarchien ihrer jeweiligen Lebenswelten. Warum? Wie gesagt, es ist ein Idealismus, der sie antreibt, eine Angst, denn sie haben erlebt, was durch korrumpierte Machthaber und eine eingeschläferte Gesellschaft passieren kann: beide sind Überlebende des Regimes der Roten Khmer in Kambodscha der 70er Jahre, nur mit unbändigem Lebenswillen und sehr viel Glück, sind sie den Massenmorden dieser Zeit entkommen und konnten nach Japan flüchten, wo sie jedoch eine übersättigte und gleichgültige Gesellschaft getüncht in politischer Apathie vorfanden. Sie planen daher bereits in der Oberschule aus zwei Richtungen kommend, berstend mit jungen Idealen, die Politk des Landes zu durchhöhlen. Wer welche Rolle übernimmt, entscheiden sie sehr pragmatisch - Schere, Stein, Papier. Akira verlässt die Schule und begibt sich vermeintlich orientierungslos in die Hände der Unterwelt. Dort zeigt er mit durchdachtem Aktionismus kantigen Charakter, der ihn schnell in höhere Ränge hievt. Asami dagegen bleibt im Schulsystem und schließt es mit Topnoten ab, greift sich eine Stelle nah an der Quelle der politischen Macht des Landes. Zwar im hohen Alter, aber noch immer mächtiges und vor allem durchtriebenes Politikgenie namens Isaoka, verzweigt in alle Bereiche des Landes, von Justiz über Wirtschaft bis hin zur Unterwelt, bildet sein Mentor und bald darauf auch seinen größten Widersacher.
Das ist auch das, was den Großteil der Serie ausmacht - das gegensietig ausspielen von den beiden Idealisten und ihren alternden Gegnern, die den für sie bequemen Status Quo nur zu gerne beibehalten wollen. Das gegenseitig beharkende Katz- und Mausspiel und politische Schach, das sich in vielerlei Listen, in der Yakuza-Welt auch durch Morde und Clankriege, zeigt, ist sehr spannend und durchdacht erzählt. Alleine ist man in einer weit verzweigten, komplexen Welt nicht stark, in einem politischen oder organisierten System unbedeutend, daher macht es Sinn, ist realistisch, dass sich die beiden Idealisten von Anfang an Gefährten auf der Reise suchen.
Dieses Anwerben und Überzeugen der potentiellen Gefolgsleute, das muss ich zugeben, strapaziert hin und wieder die Glaubwürdigkeit des Titels. Die beiden Protagonisten haben wirklich sehr viel Glück, so eindringlich auf viele andere Charaktere überzeugend einwirken zu können. Eine Menge Unterstützer sind es, die nur aufgrund der eindrucksvoll vorgetragenen Überzeugung der beiden Hauptcharaktere von ihrem bisherigen Lebenswandel - nach anfänglichem Widerstand - abkehren, um sie in ihrem Umsturzversuch zu unterstützen. Hin und wieder zeigen sich jedoch auch Charaktere, die weitaus realistischer sind und keinen glohreichen Altruismus an den Tag legen, sondern nur im Gegenzug für persönliche Vorteile aktiv für das Duo werden.
Ich mag genau diese dubiosen, schmierigen Charaktere hier am liebsten, denn in einem realistischen Szenario wie diesem, muss die Glaubwürdigkeit des Themas ganz vorne anstehen, um wirken zu können. Es tut gut, dass man diese unbeirrbaren und scheinbar perfekten Hauptfiguren hat, aber identifizieren kann ich mich mit ihnen weniger, auch wenn ich ihren Erfolg herbeisehne. Manche der so "glücklichen Fügungen" lassen sich nur bedingt nachvollziehen, wenn man unsere nüchterne Welt als Vorbild heranzieht, bei anderen hingegen greifen die Rädchen schön ineinander, wenn bspw. mit den Beweisen für Korruption beim Bau eines Urlaubsressorts erpresst wird oder wenn Kompromisse angeboten werden, die keinem obligatorischen Schwarz-Weiß-Denken entsprechen, sondern das "Wohl" beider Seiten einberechnet. Das ist glaubwürdiges Handeln politischer Akteure und in solchen Momenten zeigt sich auch die erzählerische Stärke des Titels für mich. Nebenbei, der notorische Vergewaltiger aber den Idealismus der Protagonisten unterstützende fatalistische Nebencharakter Tokai ist genretypisch für Gangstergeschichten, stößt jedoch beim Lesen etwas rüde auf, vor allem im direkten Vergleich zu dem Frauenverführer Akira, der mit einer weniger forschen Art um ein vielfaches "cooler" wirkt.
Der Zeichenstil ist, für viele sicherlich, etwas altbacken, doch auch heute nhch haben die filigranen, undurchschaubaren Gesichter, die wahnsinnig detaillierten Hintergründe, die stillvolle Ästhetik bei den häufigen Sex und nicht ganz so häufigen Gewaltszenen, eine Anziehungskraft, die auf der einen Seite laut "90er" rufen, auf der anderen Seite für eine solche "Licht-und-Schatten"-Geschichte einen soliden, bequemen Untergrund bilden. Ikegamis Zeichensti, egal ob bei
Crying Freeman, bei
Heat,
Strain oder hier, zeigt, dass seine realistische Darstellung von entschlossenen Männern und lasziven Frauen die perfekte, etwas überzogene Verpackung für Unterweltgeschichten bildet.
Ich finde, die Handlung wird sehr durchdacht und spannend erzählt. Ein, zwei Handlungsbögen hätte man sicherlich kürzen können, aber im Großen und Ganzen halte ich die Geschichte für ausreichend komplex, dass es nicht stört oder die Spannung zu sehr torpediert. Alles in allem bin ich froh, dass es einen intelligenten Titel gibt, der so unverhohlen Tacheles mit einigen realsozialen Problemen spricht, ohne dabei (zumindest meistens) zu einem moralischen Zeigefinger zu verkommen. Es werden durchaus beide Seiten angehört, die des verwachsenen "Establishments" und die der jungen und wilden "Umdenker", auch wenn natürlich nicht neutral erzählt wird. Dennoch gibt dies dem Titel eine weitere notwendige Nuance, die seine Überzeugungskraft unterstreicht.
Ich kann diesen Titel all denjenigen empfehlen, die es lieben, wenn zwei Fraktionen sich durch strategisches Ausspielen gegenseitig bekriegen, diejenigen, die eine sozialkritische Komponente in ihren Geschichten für wertvoll achten, diejenigen, die derbe Gangstergeschichten mit unerschüterlicher Männerfreundschaft mögen. Es sind leider nicht so viele Titel, die derart "großflächige Kritik" in ihrer Handlung verbauen, meistens sind auch reife Geschichten eher intim und auf kleinere Lebensbereiche beschränkt. Das ist auch heute noch erfrischend.
Es gibt einige westliche Ausgaben, meist in der 12-bändigen Bunko-Fassung, leider jedoch keine deutsche Übersetzung dieses Titels. Soweit ich weiß, ist die Serie in jedem Land lange out of print. Wer das Glück hat, diese Serie noch zu ergattern, sollte es meiner Ansicht nach einfach mal wagen, diese beiden getriebenen Träumer bei ihrem großen Versuch zu begleiten, ein Land zu ihrer würdigen Zuflucht zu machen.
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