Boys on the Run von Hanazawa Kengo
erschienen im Seinen-Magazin Big Comic Spirits (dort u. a. auch veröffentlicht: Oyasumi Punpun, Mogura no Uta, Oishinbo, Yamikin Ushijima-kun) beim Verlag Shōgakukan
beendet in 10 Bänden
Erscheinungsjahr: 2005
Inhaltsbeschreibung:
Tanishi Toshiyuki ist 29 Jahre alt. Ein Mann in voller Blüte also – könnte man meinen. Doch seine derzeitige Lebenssituation fühlt sich für ihn ganz und gar nicht wie ein Spaziergang im Glanze an, vielmehr so als müsse er tagtäglich durch einen langen Tunnel waten, inmitten von Schlick und Unrat. Für Tanishi gilt ein über allem stehendes Motto: Durchhalten und auf den richtigen Moment warten. Dieses Credo verfolgt der junge Mann schon seit 29 Jahren und eingebracht hat es ihm bisher eine wenig erfüllende Anstellung als verantwortlicher „Auffüller“ der ikonischen Gashapon-Automaten eines kleinen Unternehmens. Nicht zu vergessen sind da auch ein unordentliches Zimmer bei seinen Eltern und seine körperliche Verfassung, die dem Begriff „schmales Hemd“ per definitionem entspricht.
Ein Lichtblick am Ende des oben erwähnten Tunnels ist die unschuldige Uemura Chiharu, Spielzeug-Designerin in der gleichen Firma. Natürlich schwärmt Tanishi für sie und vielleicht… vielleicht ergibt sich da ja eine Möglichkeit? Lauf, Tanishi, lauf!
Eigene kurze Meinung:
Gut, zu Beginn möchte ich eines feststellen. Das ist wichtig für das Verständnis und meine Herangehensweise an diese Empfehlung, die mir persönlich besonders am Herzen liegt. Ich lese die Manga von Hanazawa Kengo aus einem besonderen Grund sehr gerne: Ich erkenne mich und ähnliche in den Protagonisten erschreckend oft wieder. Tanishi ist und bleibt bis kurz vor Schluss der Serie ein Blatt im Wind, von den Windböen seiner Umgebung in die eine oder andere Richtung gepustet. Oft ist es ihm auch nicht bewusst und hält die eine oder andere Richtung für einen Weg, den er aus eigener Überzeugung eingeschlagen hat. Mit entsprechenden Konsequenzen.
Und ich habe den Eindruck, wenn ich mit anderen spreche oder auch in mich hineinsehe, geht es vielen ähnlich wie dem Protagonisten dieses Werks. Das also ist der Aufhänger. Ich halte den Titel von Hanazawa für aus dem Leben gegriffen. Mit morbidem Witz, mit Ironie und Übertreibung, aber als solches trotzdem ein sehr bodenständiger Manga.
Ähnliches vollbringt Asano Inio und nicht umsonst hat eben dieser Hanazawa Kengo, beide veröffentlichen im gleichen Magazin ihre Manga, sollte er einen nennen müssen, den Autoren von „I am a Hero“ als Rivalen bezeichnet. Und Hanazawa hat eben jenes an anderer Stelle auch von Asano gesagt. Für den einen oder anderen vielleicht ganz amüsant zu wissen. Ich persönlich stelle mir eine Kollaboration der beiden an einem Titel sehr interessant vor.
Der Beginn von „Boys on the Run“ stellt eine wunderbare Einführung in die Welt von Tanishi dar, in sein wenig anstrebenswertes Dasein, ja, bemitleidenswertes:
Er wartet in einer Terekura-Kabine auf den Anruf einer Frau. Irgendeiner Frau.
Terekura oder telephone clubs sind Etablissements, in denen Männer in kleinen Kabinen auf die Telefonanrufe von Frauen warten, die mit den Herren auf der anderen Leitung bereit sind, zu schlafen. Für eine entsprechende Gegenleistung, versteht sich. Ein heutzutage seltener genutztes Werkzeug, das japanische Gesetz, welches Geschlechtsverkehr mit Prostituierten verbietet, mehr oder weniger subtil zu umgehen.
Tanishi wartet und wartet. Er wird ganz nervös, weil die Zeit gegen ihn spielt. Die Nutzung dieser Terekura kostet eine Gebühr und die würde ihm flöten gehen, wenn in dem entsprechenden Zeitraum niemand anruft. Kurz vor Ablauf ruft dann doch eine Dame auf seinem Apparat an und Tanishi ist mehr als glücklich, denn diese Frau scheint nach eigener Beschreibung und Ersteindruck der Stimme ein toller Fang zu sein. Sie besprechen ein Treffen und dort angekommen – welche Überraschung – ist die vor ihm stehende Interessentin ganz und gar nicht mehr nach seinem Geschmack. Klein, korpulent, Kurzhaarfrisur und einen erschreckend großen Appetit.
Wie es weitergeht, möchte ich offen lassen, doch soviel sei gesagt. Es endet damit, dass er einige Stunden später einen Faustschlag ins Gesicht bekommt.
Warum erzähle ich das alles im Detail? Ich halte den Anfang für recht symbolisch, was „Boys on the Run“ angeht. Tanishi ist eine ziemliche Flasche, hält sich bei allem was er tut, gerade so über Wasser und tut vor allem eins: Warten. Er wartet und ist stets der passive Part.
Die Geschichte ist dahingehend eine einfache Coming of Age-Story, auch wenn Tanishi mit fast dreißig nicht mehr ganz in dieses Raster fallen dürfte. Häufig wiederkehrende Fragen sind im Tenor von: Wie werde ich ein Mann? Was macht einen Erwachsenen aus? Wie stehe ich für mich und die, die mir wichtig sind, ein? Und wie gehe ich mit meinen eigenen Fehlern um?
Und Fehler, soviel sei ihm zugestanden, macht Tanishi viele auf seiner Reise. Genauer gesagt, rennt er, dem Titel ganz hervorragend entsprechend, von der einen in eine noch schrecklichere und von dort in eine noch viel schrecklichere Situation, oftmals geschuldet seinem eigenen unzureichend konsequentem Charakter. Doch nicht nur Tanishi hat Fehler und genau hier setzt der angekündigte Realismus wieder ein, denn auch sein Schwarm Uemura beispielsweise, entwickelt sich nicht in die Richtung, wie Romantiker es von dem weiblichen Part in einer Liebesgeschichte erwarten.
Hier sei Luft geholt und gewarnt: Nichts entwickelt sich in diesem Werk so, wie man es sich wünscht. Wenn man denkt: „Jetzt erst einmal durchatmen“, dann setzt Hanazawa erst so richtig zum Schlag an. Ein besonders prägnantes Beispiel mag die Szene sein – und hier bitte den restlichen Absatz überspringen, wer keine Spoiler lesen möchte – in der Tanishi Uemura heimlich verfolgt und dabei ansehen muss, wie sie sich mit einem anderen Mann verschüchtert aber durchaus willig Erwachsenenspielzeug ansieht. Da kann man mit Tanishi sehr gut mitfühlen. Und nicht nur das, auch die Darstellung seines emotionalen Schmerzes ist mühelos ersichtlich, denn Hanazawa ist ein großartiger Zeichner.
Der Zeichenstil ist ein wenig gröber noch als in seinem aktuellen Werk „I am a Hero“. Doch grob heißt in diesem Fall nicht weniger detailliert und die Unterschiede sind ohnehin marginal, so dass man also noch immer einen sehr realistischen Zeichenstil vor sich hat – der stark an das erinnert, was man aus „I am a Hero“ kennt. Die Darstellung der Figuren ist sicherlich Geschmackssache. Oft hat man das Gefühl, Hanazawa karikiert seine Personen mit den ausdrucksstarken Gesichtsausdrücken, den Grimassen, möchte man fast sagen. Doch gibt es dem ganzen neben eigenem Charme auch eine deutliche Bildsprache. Man sieht Tanishi an, wenn er glücklich ist. Man sieht ihm an, wenn er leidet. Und man erkennt seine Trauer, seine Enttäuschung, seine Resignation. Der Zeichenstil hat zumindest auf mich die Wirkung, dass er trifft - mitten ins Herz. Ehrlich in seiner Essenz, genau wie das gesamte Werk von Hanazawa Kengo sich unverstellt zeigt, wenn man es liest. So ist das eben, ist ein häufiger Gedanke beim Umblättern.
Ich habe bisher einige Aspekte der Geschichte nicht erwähnt: Es geht in diesem Manga auch um Konkurrenz zwischen dem leidlich existierenden Tanishi und einem anderen erfolgreichen Gashapon-Verkäufer. Anfänglich auch nur ganz „harmlos“ auf geschäftlicher Ebene.
Dann ist da der köstliche Humor: Tanishi und Uemura planen einen Tausch von Pornofilmen als Eisbrecher ihrer noch jungen Bekanntschaft, doch natürlich geht das gänzlich schief und am Ende können beide einen Bauernhof zusammen wohl nie mehr wie zuvor besuchen. Oder dann, als Tanishi ausschließlich in Unterhose mit akutem Toilettenbedarf den Helden spielt und die Widersacher ungeplant auf… Pardon die Aussprache, beschissene Weise irritiert.
In Herzensdingen gibt es neben Uemura auch die wortkarge Hana, ein boxendes Mädchen, mit der Tanishi sich nach einigen Komplikationen gut zu verstehen beginnt.
Ach ja, da war ja noch was. Das übergeordnete Thema des Manga, Boxen. Warum ich das nur so nebenbei erwähne, wo es doch in jeder Inhaltsbeschreibung des Manga ein Leitmotiv zu sein scheint?
Weil es in meinen Augen nicht der relevante Punkt ist, um die Geschichte vorzustellen oder zu begreifen. Tanishi boxt zwar, doch mehr schlecht als recht. Er bestreitet in der ganzen Serie nur einige wenige wirkliche Kämpfe und die Siege, die Tanishi davonträgt, sind mehr als fragwürdig. Keiner davon findet übrigens in einem Boxring statt. Derartig ordinäre Kämpfe verfolgt Tanishi nur als Zuschauer.
Das Boxen ist vielmehr ein Mittel, mit den gesellschaftlichen und persönlichen Konventionen zu brechen. Tanishi fällt aus seiner alten Rolle, nicht ganz, das kann er wohl nicht, aber zum Großteil ist er am Ende ein anderer.
Beim Epilog schwingt somit, ohne zuviel zu verraten, eine schon meditative Ruhe mit. Tanishi ist geläutert. „The last run“, wie es der Manga selbst treffend betitelt, schließt den Kreis zur Mannwerdung. Und die Zeit zum Luftholen gönnt man Tanishi am Ende gerne.
Der Manga hat außerhalb Asiens bisher keine Lizenzierung erfahren – wobei ich für Italien und Frankreich in der Zukunft recht zuversichtlich bin. Zehn Bände sind eine erträgliche Anzahl und der Erfolg von „I am a Hero“ in Europa hat in eben diesen Ländern bereits Hanazawas „Ressentiment“, sein frühestes mehrbändiges Werk unter die Augen des Okzidents gebracht. Ich hoffe auch auf eine Lizenz für die deutschen Leser, spielt der Boxsport eine vergleichsweise geringe Rolle und daher sollten altbekannte deutsche (Wortspiel!) Ressentiments gegen Sportmanga hier nicht akut Glocke schlagen (noch ein Wortspiel!).
Ich empfehle den Manga insbesondere Freunden von Asanos Werken, denn trotz all der Überdrehtheit, wie weiter oben bereits einmal angesprochen, ist er in seiner Botschaft und auch in seiner übergeordneten Darstellung ein tief im Alltag und in den essentiellen Sorgen und Problemen des modernen Individuums verwurzeltes Werk. Somit ein typischer Slice-of-Life-Manga mit deftiger Einlage.
Noch einfacher ist es vielleicht, sich den ersten Band von „I am a Hero“ zu kaufen und zu prüfen, ob es einem bis zum Ausbruch der Zombieapokalypse gefallen hat. Wenn man Hideo gerne bei seinen alltäglichen Wehwehchen begleitet hat, dann ist auch „Boys on the Run“’s Tanishi ein verlässlicher Kandidat für gute Unterhaltung.
PS. Es gibt sowohl einen Film als auch eine Dorama-Serie, die den Stoff von Hanazawas Manga adaptiert. Der Film erschien 2010 und wurde von Daisuke Miura dirigiert. In der Hauptrolle spielt Mineta Kazunobu den Tanishi.
Poster des Kinofilms von 2010
In der TV-Serie von 2012 übernimmt Maruyama Ryūhei die Rolle von Tanishi. Die Handlung erstreckt sich dabei über neun Episoden und lief bei TV Asahi.
TV-Dorama von 2012
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