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Thema: Der zerbrochene Stuhl

  1. #1
    Mitglied Avatar von PhoneBone
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    Der zerbrochene Stuhl

    Hallo zusammen,
    ich möchte den ursprünglichen Gedanken hinter der Schreibstube wieder aufgreifen – nämlich Texte zu teilen, die einem am Herzen liegen.
    Ich habe etwas geschrieben, das ich gerne mit Euch teilen möchte. Es ist ein Ausschnitt aus einem größeren Projekt, und ich bin gespannt, wie es bei Euch ankommt.
    Kommentare, Gedanken, Kritik – alles ist willkommen.
    Was Genre und Inhalt angeht, lasse ich Euch einfach selbst eintauchen. Viel Spaß beim Lesen!


    Der zerbrochene Stuhl


    NEUANFANG

    Die flackernden Paneele baden den engen Raum in unruhiges Licht. Wir stehen dicht gedrängt, Schulter an Schulter, wie Vieh zusammengepfercht in einer Sardinenbüchse.
    Ich spüre die Wärme, die von den zwei Dutzend Körpern ausgeht, rieche den stechenden Geruch von Schweiß der schwer in der Luft hängt. Ich atme flach, bemüht, die Übelkeit
    zu unterdrücken, die sich in meinem Magen regt. Der Boden unter uns vibriert, ein tiefes, grollendes Brummen, das sich in Wellen durch unsere Beine in den Körper ausbreitet.
    Niemand spricht. Die Nervosität ist greifbar. Seit einer Ewigkeit starren wir auf diese Luke. Ich sehe in die Gesichter. Viele Blicke sind leer, in manchen aber spiegelt sich Hoffnung.
    Hinter dieser Luke wartet immerhin unsere Zukunft. Und ich bete, dass sie weniger erbärmlich ausfällt als mein bisheriges Leben.

    Vier Monate hatte ich Zeit, mich auf diesen Moment vorzubereiten, auf das, was mich auf der anderen Seite erwartet. Und dennoch fühlt es sich falsch an. Als würde ich das Leben
    eines Fremden betreten wollen, den ich kaum kenne.
    Bin ich dazu bereit? Der Zweifel nagt an mir. Hartnäckig. Gierig. Wie eine ausgehungerte Ratte, hervorgekrochen aus den dunkelsten Ecken meines Verstandes.
    Was, wenn das hier die dümmste Idee war, die ich je hatte?
    Nicht, dass ich jetzt noch etwas daran ändern könnte.
    Ein scharfes Zischen durchbricht meine Gedanken. Die Luke ist meines inneren Monologs wohl endgültig überdrüssig geworden. Dann ein leises Klicken. Die Kontrolllampe springt
    von Rot auf Grün.
    Es geht los.

    Ich ziehe scharf die Luft ein, versuche so, die aufkeimende Panik zu ersticken. Doch der beißende Geruch lässt mich würgen. Ich kämpfe gegen den Reflex, mich zu übergeben.
    Vier Monate habe ich in dieser Konservenbüchse ausgehalten. Vier Monate für genau diesen Moment.
    Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
    Zögerlich nähert sich meine Hand der Konsole. Die Finger schweben zitternd über dem Sensorfeld. »Dann los«, flüstere ich und lasse sie langsam auf die glatte Oberfläche sinken.
    Ein sanftes Vibrieren durchläuft meine Fingerspitzen.
    Die Luke gibt ein dumpfes, mechanisches Ätzen von sich, dann gleitet sie mit einem aufgeregten Piepen langsam zur Seite. Fast wie ein Vorhang, der ein spektakuläres Kunstwerk
    enthüllt. Gleißendes Tageslicht ergießt sich in die enge, dunkle Kammer. Instinktiv reiße ich die Hände vors Gesicht, um meine Augen vor der blendenden Helligkeit zu schützen.
    Hinter mir geht ein überraschtes Stöhnen durch die Reihen. Die langen Monate unter künstlicher Beleuchtung fordern nun schadenfroh ihren Tribut.
    Feiner Staub wirbelt durch die Öffnung, dringt mir in die Lungen. Ich muss husten. Die Menge wird langsam unruhig. Nur einen Moment noch, dann kneife ich die Augen zusammen
    und setze den ersten Schritt hinaus auf die Rampe - hinein in mein neues Leben.
    Die Luft draußen ist trocken. Noch immer trüb vom aufgewirbelten Staub der Landung. Es riecht nach Eisen und Rost. Das leise Summen der Motoren ist das einzige Geräusch,
    ansonsten herrscht eine seltsame Stille. Kein Vogelzwitschern, kein Blätterrauschen, keine spielenden Kinder. Nicht mal der nervige Rasenmäher von nebenan.
    Seltsam, wie beiläufig ich Alltagsgeräusche sonst wahrgenommen habe. Doch jetzt, da sie komplett fehlen, werde ich mir ihrer erstmals bewusst.
    Der intime Moment endet abrupt, als mich jemand unsanft von hinten anrempelt.
    »Mach Platz, Junge.«
    Ich stolpere, verliere beinahe das Gleichgewicht. Der Protest liegt mir schon auf der Zunge - doch da drängt sich Mertens bereits an mir vorbei. Mit entschlossenem Schritt bahnt
    er sich seinen Weg die Rampe hinab, als würde er vor seiner eigenen Unzufriedenheit fliehen.
    Ich blicke ihm nach und ertappe mich bei dem Wunsch, sein viel zu enger Overall möge dem nach Freiheit strebenden Fettgewebe einfach nachgeben. Ein großartiger Gedanke.
    Ich kann mir ein flüchtiges Lächeln nicht verkneifen.

    Aber besser, ich konzentriere mich auf meinen eigenen Abstieg. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist eine weitere unfreiwillige Akrobatikeinlage.
    Unsicher setze ich einen Fuß vor den anderen, taste mich langsam die Rampe hinunter. Jeder Schritt fühlt sich merkwürdig an, als wäre ich wieder zehn Monate alt und würde
    gerade das Laufen lernen. Angesichts meiner Schwierigkeiten, die Balance zu halten, muss ich widerwillig eine gewisse Bewunderung für den Kotzbrocken vor mir eingestehen.
    Im Vergleich zu mir bewegt er sich fast schon anmutig. Als würden die veränderten Gesetze der Schwerkraft für ihn nicht gelten.
    Wahrscheinlich hat er das alles schon unzählige Male durchlaufen. Oder es ist ihm einfach egal. Soll sich die Gravitation doch gefälligst nach ihm richten.
    Und wenn nicht – reicht er vermutlich eine formelle Beschwerde direkt beim Universum ein. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn bereits, wie er den Geist von Sir Isaac Newton
    persönlich vors oberste Gericht zerrt.

    Ich hingegen muss mich weiter wackelnd und taumelnd die Rampe hinunterarbeiten – mit dem Gleichgewichtssinn eines betrunkenen Pinguins.
    Ein vorsichtiger Blick über die Schulter bestätigt: Den anderen Passagieren ergeht es nicht besser. Wir sind wie eine Horde Kleinkinder, die dem elterlichen Laufstall zum ersten Mal
    entfliehen. Beruhigend. Einen weiteren Rempler würde mein ohnehin schon angeknackstes Selbstbewusstsein vermutlich nicht mehr unbeschadet überstehen.
    Zum ersten Mal, seit ich den dunklen Bauch der Landefähre verlassen habe, wage ich es, den Blick von meinen Füßen zu lösen und nach vorn zu richten. Mir stockt der Atem.
    Der Anblick ist spektakulär. Vor mir liegt ein weites Plateau, das in eine endlose Ebene übergeht. Rote Felsen und zerklüftete Sandformationen durchziehen die Landschaft,
    unterbrochen von Hügeln und verstreuten Felsgruppen, die wie stumme Wächter aus dem Boden ragen.
    Ein Moment unvermittelter Ehrfurcht überkommt mich, als ich die Rampe verlasse und mit festem Schritt den Boden meiner neuen Heimat betrete. Hier bin ich!
    Fehlt nur noch das Empfangskomitee. Ein paar Leute mit bunten Fähnchen würden schon reichen. Dazu noch ein großes Transparent, auf dem in fröhlichen Lettern steht:
    Willkommen auf dem Mars!

    Ich lasse den Landeplatz und mein imaginäres Empfangskomitee im Staub zurück und wende mich dem imposant vor mit aufragenden Raumhafengebäude zu. Mit jedem
    Atemzug strömt künstlich aufbereitete Mars-Luft in meine Lungen, vermischt sich mit dem feinen Staub der Landung. Hoffentlich haben sie hier oben ordentliche Luftfilter
    – schließlich bin ich nicht auf den Mars gekommen, um mir eine Staublunge einzufangen.
    Mit jedem Schritt gewöhne ich mich mehr an die veränderte Gravitation. Mein Gang wird fester, sicherer. Fast schon bin ich ein wenig stolz darauf, dem Kleinkindalter so schnell
    wieder entwachsen zu sein.

    Der Landeplatz ist gezeichnet von den ausgefransten Spuren unzähliger Shuttles, die im Laufe der Jahre hier gelandet und wieder gestartet sind – stille Zeugnisse mutiger
    Abstiege in eine fremde Welt. Hinter mir steht das Shuttle noch immer majestätisch, als wolle es seine Bedeutung demonstrieren. Aus fünf geöffneten Rampen strömen die
    Passagiere aus dem Bauch des Schiffs, wie Blutkörperchen aus einem schlagenden Herzen.
    Die Landestützen erinnern an die Beine eines Insekts – kräftig, starr, gebaut, um den Aufprall auf dem harten, roten Boden abzufangen. Die glänzende Außenhaut reflektiert
    das Licht der Mars-Sonne und verleiht dem Schiff ein futuristisches, beinahe skulpturales Aussehen. Klare Linien und geschwungene Kurven bestimmen das Design, als hätte
    ein Künstler Hand angelegt.
    Die geöffneten Luken wirken wie hungrige Mäuler – bereit, neue Passagiere zu verschlingen oder auszuspucken, ganz nach Bedarf. Überall zeigen sich technische Details:
    kleine Schraubenköpfe, metallene Verbindungen, Lüftungsschlitze. Selbst die Fenster sind durchdacht – ihre gläsernen Paneele nahtlos in die Außenhaut eingelassen, um den
    Luftwiderstand bei der Landung zu minimieren.
    Eigenartig geformte Sensoren und Antennen ragen aus der Oberfläche, vermutlich für die Kommunikation mit der Bodenkontrolle. Und dann sind da noch die Triebwerke
    – gewaltig, dominant, sie nehmen einen Großteil der Schiffmasse ein. Ihre schiere Größe strahlt eine fast arrogante Selbstsicherheit aus, als würden sie flüstern:
    Vertrau uns – wir bringen dich in die Weiten des Alls. Und mal ehrlich: Wer könnte schon misstrauisch gegenüber riesigen, glänzenden Düsen sein?
    Der Flug von der Erde zum Mars dauerte 132 Tage, selbstverständlich gemessen in Erd-Zeit – ein durchaus respektables Tempo. Noch vor weniger als einer Dekade hätte man für
    dieselbe Strecke mehr als doppelt so lange gebraucht. Und doch können sich 132 Tage verflucht lange hinziehen, besonders wenn man sie größtenteils in einer Kabine verbringt,
    die nicht viel größer ist als ein Schuhkarton.
    Dank künstlicher Schwerkraft war es immerhin möglich, sich halbwegs normal zu bewegen, in einem Bett zu schlafen und seine Notdurft unter zivilisierten Bedingungen zu verrichten.
    Diese kleine Oase der normalen Lebensbedingungen vermittelte mir zumindest die Illusion, nicht in einem hermetisch abgeriegelten Metallkasten durch das endlose Vakuum zu treiben,
    während draußen das Universum nur darauf lauert, uns bei der erstbesten Gelegenheit in seinen unendlichen, kalten Weiten zu verschlingen.

    Für Ablenkung an Bord sorgte vor allem Mertens – der lautstarke Mittelpunkt jeder noch so kleinen Unzufriedenheit. Seine Eskapaden reichten von wütenden Tiraden über die Qualität
    der Bordverpflegung bis hin zu endlosen Diskussionen über die Farbe der Vorhänge im Gemeinschaftsraum. Selbst die Schwerkraft schien unter seinen Beschwerden zu leiden:
    Je mehr er sich aufregte, desto schwerer lastete seine Anwesenheit auf uns allen.
    Während andere Passagiere – mich eingeschlossen – sich in die Enge ihrer Kabinen zurückzogen, schien der Krawallmann seine Bestimmung darin gefunden zu haben, die ohnehin
    schmalen Flure mit seiner Aura der Unzufriedenheit zu fluten. Er fluchte über den Mangel an Platz, fand die Sitze unbequem, beklagte die dürftige Auswahl an Unterhaltung
    – und fragte in regelmäßigen Abständen, ob es wirklich so schwer sei, anständigen Kaffee zu servieren.
    Die kollektive Erleichterung, als das Landeshuttle schließlich sanft auf der Marsoberfläche aufsetzte, war beinahe greifbar. Selbst die Türen öffneten sich mit einem erleichterten Zischen
    – als hätten sie genug von ihm.
    Geändert von PhoneBone (10.10.2025 um 18:32 Uhr)

  2. #2
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    ERWACHEN

    Ein Geräusch. Ein leises rhythmisches Piepen, das sich zunehmend durch die Dunkelheit bohrte.
    Ich spürte ein Gewicht auf meiner Brust, eine lähmende Trägheit in meinen Gliedern. Meine Finger tasteten über eine raue Oberfläche – Stoff? Eine Decke? Es roch steril,
    nach Desinfektionsmittel und abgestandener Luft.
    Ich öffnete die Augen. Die Decke über mir war weiß. Kaltes Licht strömte aus schmalen Streifen, so grell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste. Der Raum war still,
    bis auf das penetrante Piepen, das jetzt deutlich lauter erschien als noch gerade eben.
    Ich versuchte mich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz schoss mir durch den Schädel und zwang mich zurück auf das Kissen. Ein schwaches Stöhnen entwich mir.
    Mein Mund fühlte sich trocken an.
    Ein Name. Mein Name.
    Ich suchte danach, tastete in meinem Kopf nach etwas Vertrautem, aber da war nichts. Nur Leere. Kein Name. Keine Erinnerung.
    Mein Herz schlug schneller.
    Wer war ich?
    Geändert von PhoneBone (10.10.2025 um 18:33 Uhr)

  3. #3
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    GEPÄCKAUSGABE

    Ungläubig starre ich auf die gewaltige Glaskuppel am Himmel über mir. Sie überspannt das gesamte Raumhafen-Areal, einschließlich des Landeplatzes, wie ein umgedrehtes Goldfischglas.
    Der Goldfisch bin dann wohl ich. Fehlt nur noch ein zufällig vorbeikommendes Mars Kind, das sich neugierig die Nase an der Kuppel plattdrückt. Eine beängstigende Vorstellung.
    Das eigentliche Highlight der Konstruktion befindet sich im Zentrum der Kuppel: ein gewaltiges Tor, durch das Raumschiffe ein- und ausfliegen können. Im Moment ist es geschlossen,
    und der Landeplatz, samt mir, vor der lebensfeindlichen Marsatmosphäre geschützt. Hoffentlich bleibt das auch so. Ich sehe mich schon, hilflos nach Luft schnappend, im roten Staub zappeln,
    wie ein Goldfisch auf dem Trockenen.
    »Oh, tut uns leid, wir haben sie bei der Torfreigabe übersehen.« Ein unangenehmer Gedanke, der mich dazu bringt, mein Staunen auf später zu verschieben und mich stattdessen zügig in
    Richtung Ankunftshalle zu bewegen.

    Das gigantische Tor zur Ankunftshalle steht weit offen, eine einladende Geste an alle Mars-Neulinge wie mich.
    Dieses Tor ist mehr als nur ein einfacher Durchgang. Es symbolisiert den Übergang vom endlosen, kalten Vakuum des Alls hinein in die bewohnten Kolonien, in das neue Leben, das mich erwartet.
    Und mit jedem Schritt, den ich näherkomme, wächst in mir die Neugier. Vielleicht sogar so etwas wie Hoffnung.
    Ich lasse meinen Blick durch die Halle schweifen und beobachte die anderen Passagiere. Manche eilen wie Ameisen scheinbar ziellos umher. Andere haben sich in kleinen Grüppchen
    zusammengefunden, führen angeregte Gespräche und wirken sichtbar erleichtert, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein paar stehen vor den überdimensionierten
    Anzeigetafeln und starren fasziniert auf die unübersichtliche Flut an Informationen, die dort im ständigen Wechsel aufleuchten.

    In einer Ecke hat sich eine Schlange gebildet. Neuankömmlinge reihen sich geduldig vor einem bunten Verkaufsstand ein, der mit allerlei Mars-Nippes lockt. Miniatur Shuttles, T-Shirts mit
    roten Marslandschaften, Plüsch-Astronauten. Unglaublich, dass wir Menschen uns sogar auf einem fremden Planeten noch immer von denselben trivialen Dingen begeistern lassen.
    Mein Blick bleibt an einer Frau hängen, die einige Meter entfernt an einem Tisch steht. Ihr gelber Mantel sticht aus der Menge der vorwiegend in grau gekleideten Menschen hervor. Sie trägt
    ihr dunkles Haar kurz, eine schwarze Sonnenbrille lässig auf den Kopf geschoben. Als sie kurz aufschaut, begegnen sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde, doch sie zeigt kein
    Interesse daran, den Augenkontakt aufrecht zu erhalten. Ihre Haltung wirkt selbstbewusst, fast schon arrogant, während sie an ihrem Stehtisch steht und teilnahmslos an einem Becher nippt.
    Der gelbe Mantel scheint mir eine mutige Wahl zu sein. Ein echtes Statement hier auf dem Mars, wo Grau offenbar als Standardfarbe gilt. Ob sie sich bewusst von der Mars-Mode abheben will?
    Oder ist Gelb einfach ihre Farbe?

    Meine Gedanken verlieren sich in Spekulationen, bis eine auffällig emotionslose Durchsage mich zurück in die Realität holt. Die Gepäckausgabe hat begonnen.
    Glücklicherweise entdecke ich in all dem Trubel eine leuchtende Anzeigetafel, die mit grünen Pfeilen den Weg zur Gepäckausgabe weist. Wie einst die drei Könige dem Stern von Bethlehem folgten,
    lasse ich mich von leuchtenden Pfeilen leiten – hinein in einen breiten Gang, der bereits von zahllosen Reisenden gesäumt ist, die offenbar dasselbe Ziel haben: ihr Gepäck.
    Ein Raumhafen unterscheidet sich nicht wesentlich von einem Flughafen auf der Erde. Man landet, steigt aus, irrt durch endlose Gänge, sucht verzweifelt das richtige Förderband
    - und hofft inständig, dass der Koffer nicht in der Umlaufbahn geblieben ist. Oder schlimmer noch: auf der Venus gelandet.
    Im Grunde genommen wäre das in meinem Falle aber ohnehin egal, denn tatsächlich beschränkt sich der Inhalt meines Koffers auf die minimale Grundausstattung, um über die ersten Tage zu
    kommen: ein paar zusammengelegte Standard-Overalls, selbstverständlich in modischem Grau, die nötigsten Hygieneartikel und ein DataPad, auf dem ich etwas Fachliteratur gespeichert habe.
    Dazu kommt noch mein Rucksack mit den vor dem Flug bereits dekontaminierten Kleidungsstücken und einem weiteren DataPad mit noch mehr Fachliteratur und einigen Filmen und Musik für die Reise.
    Von den meisten meiner Besitztümer habe ich mich vor dem Abflug getrennt, abgesehen von ein paar Erinnerungsstücken, die ich bei meinen Großeltern ließ. Aber ob ich jemals zur Erde zurückkehren
    werde, ist fraglich, ein Rückflugticket habe ich jedenfalls nicht.

    Während ich mich in die Schlange vor der Gepäckausgabe einreihe, wandert mein Blick noch einmal zurück zu der Frau im gelben Mantel. Sie steht immer noch dort, unverändert gelassen. Wartet sie
    auf jemanden? Doch bevor ich mir allzu viele Gedanken machen kann, zieht ein altbekannter Passagier meine volle Aufmerksamkeit auf sich.
    Mertens. Natürlich steht er ganz vorne in der Schlange, direkt am Gepäckband und ist leider kaum zu übersehen. Sein massiger Körper füllt den Raum fast vollständig aus, und sein viel zu enger Overall
    spannt bei jeder ungeduldigen Bewegung bedrohlich. Mit seinem wütenden Gesichtsausdruck und den schweißnassen Haaren wirkt er, als hätte man ihn direkt aus einem Boxring hierher verfrachtet.
    Er gestikuliert wild mit den Armen, zeigt immer wieder auf die Gepäckabfertigung, als könne er die Förderbänder mit bloßer Willenskraft beschleunigen. Seine laute Stimme übertönt fast alles andere,
    während er sich bei jedem Raumhafenmitarbeiter beschwert, der unvorsichtig genug ist, in seine Nähe zu geraten. In gewohnter Manier kritisiert er alles, von der zu grellen Beleuchtung bis hin zur
    Anordnung der Stühle. Frederik Mertens ist ein wahrer Meister darin, sich selbst ins Zentrum jeder Szene zu rücken und jede Gelegenheit zu nutzen, um seine chronische Unzufriedenheit hinaus in die Welt zu tragen.
    Mit einem amüsierten Grinsen beobachte ich Mertens’ neueste Eskapaden, während mein Blick immer wieder suchend über das Gepäckband wandert. Seine unverschämte Art und die Tatsache,
    dass er scheinbar überall einen Grund zum Meckern findet, lassen ihn fast wie die Karikatur eines unzufriedenen Passagiers wirken. Es ist schwer, seiner theatralischen Performance nicht zumindest
    ein Schmunzeln abzugewinnen, auch wenn ich insgeheim froh bin, nicht in seiner unmittelbaren Nähe zu stehen.

    Ich frage mich, was ihn wohl dazu bewogen hat, ausgerechnet auf den Mars zu kommen. Und noch mehr hoffe ich, dass sich unsere Wege hier oben nicht allzu oft kreuzen werden.
    Endlich setzt sich das Gepäckband in Bewegung. Bevor die Koffer ihre Besitzer erreichen, durchlaufen sie eine faszinierende Desinfektionsprozedur: Während sie über das Förderband wandern,
    werden sie von einer schimmernden Energiematrix umhüllt, die sämtliche Mikroben irdischen Ursprungs neutralisiert. Diese Maßnahme ist von entscheidender Bedeutung, um die Marskolonisten
    vor potenziell katastrophalen interplanetaren Infektionen zu schützen.
    Einige der Siedler leben bereits seit Jahrzehnten auf dem Roten Planeten – ihr Immunsystem ist längst nicht mehr auf die aktuellen Krankheitserreger der Erde vorbereitet. Durch natürliche Mutationen
    haben sich irdische Mikroorganismen weiterentwickelt, sodass selbst ein harmloser Schnupfen für einen Marsbewohner zur tödlichen Bedrohung werden könnte. Die Desinfektion ist daher nicht nur Vorsicht,
    sondern lebenswichtige Notwendigkeit.

    Ich denke kurz darüber nach, wie viele Bakterien und Staubpartikel sich wohl in meinem Koffer tummeln. Die Technologie scheint ihre Aufgabe ernst zu nehmen – hoffentlich nicht zu ernst.
    Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich mir ausmale, wie plötzlich der Kontaminationsalarm auslöst und meine Habseligkeiten kurzerhand vaporisiert werden. Die Vorstellung,
    dass meine Socken und Unterhosen in einem Akt galaktischer Übervorsicht pulverisiert werden könnten, ist äußerst unangenehm. Vielleicht hätte ich meine Unterwäsche doch noch einmal waschen sollen.
    Erleichterung macht sich breit, als ich meinen kleinen, orangefarbenen Koffer unversehrt vom Förderband hebe. Ironischerweise scheint das Karma ein besonderes Auge auf Mertens geworfen zu haben
    - sein Gepäck bleibt spurlos verschwunden. Der Gedanke an diese kleine, stille Genugtuung entlockt mir ein Schmunzeln, während ich mich Richtung Ausgang bewege.
    Im Vorübergehen überfliege ich kurz die bunt flimmernden Anzeigetafeln, die in leuchtenden Farben die Abfahrtszeiten der nächsten Züge zu den verschiedenen Kolonien auflisten.
    Ein letzter Blick zurück in die weite Halle des Raumhafens, dann mache ich mich entschlossen auf den Weg zum Bahnhof.
    Geändert von PhoneBone (10.10.2025 um 18:37 Uhr)

  4. #4
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    2076-04-19-00632

    Ich zwang mich zur Ruhe. Panik würde mir nicht helfen. Doch wie blieb man ruhig, wenn nichts mit einem stimmte?
    Ich betrachtete meine Hand. Die Haut wirkte bleich unter dem kalten, diffusen Licht. Eine dünne Kanüle steckte in meinem Handrücken, verbunden mit einem
    transparenten Schlauch, der zu einem kleinen, leuchtenden Infusionsmodul führte.
    Auf meiner Brust klebten Elektroden. Mein Blick folgte den zarten Drähten zu einem Gerät, das leise summte und mit jedem meiner Herzschläge ein einzelnes,
    präzises Piepen ausstieß.
    Krankenhaus. Das musste ein Krankenhaus sein.
    Aber warum war ich hier?

    Ich versuchte erneut, mich aufzusetzen, diesmal vorsichtiger. Die Welt schwankte, meine Arme fühlten sich schwach an, aber ich schaffte es, mich aufzurichten.
    Der Schmerz in meinem Kopf pochte dumpf. Wie lange lag ich schon hier?
    Mein Blick fiel auf die Wand gegenüber. Ein großes Display war darin eingelassen, dunkel, bis auf eine leuchtende Uhrzeit in der Ecke. 14:32. Kein Datum.
    Neben dem Bett stand ein Stuhl, leer. Daneben ein kleiner Tisch mit einem Glas Wasser. Meine Kehle fühlte sich rau an, als hätte ich tagelang nicht gesprochen.
    Ich griff nach dem Glas, meine Finger zitterten leicht. Das Wasser war kühl und fremd auf meiner Zunge.
    Dann fiel mein Blick auf meinen Arm.
    Dort, knapp unterhalb des Ellbogens, prangte eine Zahl. Schwarz, gestochen scharf in meine Haut eingebrannt.
    2076-04-19-00632
    Mein Magen zog sich zusammen. Ich starrte auf die Ziffern. War das meine Identifikationsnummer? Mein Patientencode?
    Ich strich mit den Fingern darüber, die Haut fühlte sich glatt an. Ich konnte mich nicht an meinen Namen erinnern, doch immerhin hatte ich eine Nummer. Beruhigend.
    Langsam ließ ich den Arm sinken und sah mich erneut in meinem Zimmer um. Der Raum war schlicht, funktional. Keine persönlichen Gegenstände, keine Fenster.
    Nur glatte Wände, die Luft roch nach Reinigungsmittel. Rechts war eine Tür mit einem kleinen, eingebauten Terminal und einer leuchtenden Sensorfläche.
    Ich musste hier raus.

    Ich schob die Decke beiseite und schwang vorsichtig die Beine über den Bettrand. Der Boden fühlte sich kalt an unter meinen Füßen. Ein Anflug von Schwindel
    ließ mich einen Moment innehalten. Ich holte tief Luft, spannte die Muskeln an und versuchte, mich aufzurichten.
    Für einen Sekundenbruchteil dachte ich, es könnte funktionieren.
    Dann gaben meine Beine nach.
    Ein Moment der Schwerelosigkeit – dann krachte ich auf den Boden. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Arm, als die Infusionsnadel aus meiner Haut glitt.
    Ein dünner Strahl Blut quoll aus der Einstichstelle, tropfte auf den Boden. Gleichzeitig löste sich etwas von meiner Brust.
    Ich blinzelte. Mehrere kleine Elektroden klebten noch lose an meiner Haut, ihre Kabel hingen nutzlos von der Bettkante herab.
    Wie lange hatte ich meine Beine nicht benutzt?
    Ich lag auf dem kalten Boden, unfähig, mich zu bewegen. Mein Körper fühlte sich an wie ein fremdes, unbrauchbares Konstrukt aus Muskeln und Knochen,
    das nicht mehr wusste, wie es funktioniert.
    Mein Atem ging schwer. Mein Herz pochte in einem ungleichmäßigen Rhythmus. Ich presste die Handflächen gegen den Boden, versuchte, mich aufzurichten – vergeblich.
    Meine Arme zitterten unter der Anstrengung, meine Beine blieben reglos.
    Verdammt.
    Ruhig bleiben.
    Ich rollte auf den Rücken und starrte an die Decke.
    Wie lange lag ich hier schon? Wie lange hatte mein Körper nichts getan außer atmen?
    Meine Finger wanderten tastend über meinen Arm. Ich war dünn. Zu dünn.
    Ein Geräusch durchbrach die Stille. Ein leises Summen, gefolgt von einem mechanischen Klicken.
    Ich drehte den Kopf zur Tür.
    Das Terminal daneben erwachte zum Leben. Eine kühle, synthetische Stimme erklang:
    »Patient 00632 – motorische Aktivität erkannt. Medizintechnische Assistenz wird eingeleitet.«
    Was zur Hölle bedeutete das?
    Geändert von PhoneBone (10.10.2025 um 18:38 Uhr)

  5. #5
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    ELYSIUM PRIME

    Nachdem ich mich drei Stunden lang, wie ein atomar beschleunigtes Teilchen, durch tausende Kilometer unterirdischer Transitröhren habe schießen lassen,
    erreiche ich endlich mein Ziel: Elysium Prime - die größte Kolonie auf dem Mars, eingebettet in die gewaltige Elysium Region, die sich über beeindruckende
    2,5 Millionen Quadratkilometer erstreckt.
    Im Nordwesten erhebt sich der majestätische Elysium Mons, ein Vulkan von stolzen 12,5 Kilometern Höhe. Für einen Moment habe ich das Bild von Mertens
    vor mir, wie er in einem viel zu engen Raumanzug den steilen Hang hochkeucht, unaufhörlich fluchend, der Berg möge ihm gefälligst ein Stück entgegenkommen.
    Der Bahnhof von Elysium Prime ist im Grunde nicht mehr als eine horizontale Röhre mit einer weiten Öffnung, durch die Passagiere ein- und ausströmen.
    Die Architektur erinnert entfernt an alte Rohrpostsysteme, von denen ich mal in einem Geschichtsblog gelesen habe.

    Als ich hinaustrete, eröffnet sich vor mir das pulsierende Herz dieser riesigen Stadt. Hoch aufragende Gebäude mit spiegelnden Glasfassaden recken sich in
    den Himmel wie gigantische Kristalle, die das Sonnenlicht in alle Richtungen brechen. Einige von ihnen scheinen hunderte von Stockwerken hoch zu sein.
    Die Straßen sind belebt, voller Menschen in unterschiedlichsten Kleidungsstilen, die geschäftig ihren täglichen Aufgaben nachgehen. An den Fassaden mancher
    Gebäude sind leuchtende Werbetafeln angebracht, die in grellen Farben für Produkte werben, die mir völlig fremd sind.
    Die Luft ist erfüllt von einem Kaleidoskop an Gerüchen, so vielfältig und fremdartig, dass ich kaum einen davon zuordnen kann. Einige scheinen von den
    zahlreichen Straßenständen zu stammen, die sich rund um den Bahnhof gruppieren – dort brutzelt, dampft und zischt es, während Händler ihre Waren feilbieten.
    Zwischen den hoch aufragenden Gebäuden entdecke ich riesige Parks, grüne Oasen voller üppiger Vegetation und farbenprächtigen Blumen, die in der künstlichen
    Atmosphäre erstaunlich lebendig wirken.

    Die Kuppel über der Kolonie ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen, so hoch erstreckt sie sich über die Skyline hinaus.
    Es ist kaum zu fassen, welche Ressourcen hier aufgewendet wurden.
    Überwältigt von all den Eindrücken glaube ich für einen Moment, in der Menge einen gelben Stofffetzen aufblitzen zu sehen. Aber vielleicht spielt mir mein Wunsch
    nach etwas Vertrautem auch nur einen Streich. Ich schiebe den Gedanken beiseite und ziehe mein DataPad hervor.
    Die Adresse, zu der ich will, ist zu weit entfernt, um zu Fuß zu gehen. Ich beschließe, jemanden nach der besten Verbindung zu fragen. Ein paar Meter weiter steht
    ein freundlich wirkender Mann mittleren Alters, der auf jemanden zu warten scheint. Kurzes, dunkles Haar, eine auffällige Schmuckkette – er vermittelt den
    Eindruck, als könnte er sich hier auskennen.
    »Entschuldigen Sie«, beginne ich höflich und halte ihm mein DataPad hin. »könnten Sie mir sagen, wie ich am besten zu dieser Adresse komme?«
    Er lächelt freundlich. »Klar. Das ist unten im Süden. Du kannst den TransPod nehmen - die Station ist gleich um die Ecke. Mit einer der Kapseln kommst du direkt
    zur Elysium-Plaza. Von dort aus ist es dann nicht mehr weit zu deiner Adresse.«
    Ich bedanke mich höflich und folge seinem Vorschlag. Tatsächlich ist die TransPod-Station kaum zu verpassen. Ein schlichter Turm erhebt sich über die Straßenebene.
    Über dem Eingang leuchtet eine Displayanzeige: Station Elysium-Nord – TransPod verfügbar. Der Zugang erfolgt über einen automatischen Lift, der mich lautlos
    hinauf zur Plattform bringt. Eine der Kapseln wartet bereits.

    DieTransPods bilden das Rückgrat des öffentlichen Verkehrs in den Marskolonien. Sie gleiten auf einem magnetischen Schienennetz durch die Stadt, lautlos und effizient.
    Ihre Außenhülle ist aerodynamisch geformt, wie aus einem Guss. Im Inneren zeigen Holo-Displays Informationen zur Route, Ankunftszeit und aktuelle Nachrichten.
    Die Kabine ist geräumig, die Sitze überraschend bequem, und durch die Panoramafenster bietet sich ein fantastischer Blick auf die Stadt.
    Da es keinerlei Bedienelemente zu geben scheint, sage ich einfach »Elysium Plaza«. Die Kapsel reagiert sofort und setzt sich sanft in Bewegung.
    Während wir durch die Stadtlandschaft gleiten, erhasche ich immer wieder Blicke auf Menschen, die sich geschäftig durch die Straßen bewegen - einige auf Scootern,
    andere auf Bikes, mit Karren oder zu Fuß. Größere Fahrzeuge sind kaum unterwegs. Die Straßen wirken sauber und gepflegt, die Gebäude glänzen in den
    unterschiedlichsten Farben und scheinen doch in perfekter Harmonie miteinander zu stehen.

    Nur wenige Minuten später erreicht mein TransPod die Plaza Station. Mit einem leisen Zischen öffnet sich die Tür. Aufgeregt und neugierig auf das, was mich erwartet,
    steige ich aus und nehme den Lift nach unten.
    Als ich aus der Station auf den zentralen Platz trete, bleibt mir kurz die Luft weg. Der Anblick ist so surreal, dass ich beinahe vergesse, mich unter einer gigantischen
    Käseglocke auf einem rostroten Wüstenplaneten zu befinden. Für einen flüchtigen Augenblick frage ich mich, ob ich nicht doch durch ein Wurmloch zurück auf die
    Erde katapultiert wurde – vielleicht auf den Place du Tertre in Paris?
    Der Platz ist gesäumt von charmanten Cafés und farbenfrohen kleinen Läden. Unter schattenspendenden Bäumen sitzen Menschen auf Bänken, unterhalten sich,
    lesen oder genießen die friedliche Atmosphäre. Straßenhändler bieten Kunstwerke und Waren von der Erde an - und ich wundere mich, wie es ihnen wohl gelingt,
    all diese Dinge hierherzuschaffen.

    Wenn ich der Karte auf meinem DataPad glauben kann, dann sind es nur noch etwa zweihundert Meter zu meiner Zieladresse, in einer schmalen Gasse, die etwa
    auf halber Höhe des Platzes nach links abzweigt. Ich folge dem Rand des Platzes, lasse den Blick noch einmal über die stimmige Szenerie schweifen und sauge die
    Atmosphäre in mir auf, bevor ich in die Gasse trete.
    Gigantische Gebäude säumen den schmalen Weg zu beiden Seiten, ihre Fassaden ragen so weit in den Himmel auf, dass sie sich über mir beinahe zu berühren scheinen.
    Im scharfen Kontrast zum einladend hellen Platz, ist die Düsternis hier erdrückend. Kaum ein Lichtstrahl findet seinen Weg bis hinunter zum Boden.
    Es ist, als hätte ich eine völlig andere Welt betreten: In wenigen Schritten vom Boulevard in Paris hinein in die düstersten Gassen New Yorks. Nervös starre ich in die
    Dunkelheit – die Gasse scheint verlassen, aber was, wenn jemand aus dem Schatten tritt? Ich versuche, ruhig zu atmen, aber mein Herz pocht heftig. Reiß dich zusammen,
    denke ich. Es ist nur eine Gasse.

    Ich weiß, dass die Kriminalität in Elysium Prime kaum eine Rolle spielt – die meisten hier sind wohlhabende Aussteiger von der Erde, Arbeiter, Wissenschaftler oder Studenten.
    Sie beschäftigen sich eher mit Forschung, Projekten und Studien als mit Überfällen in dunklen Gassen. Trotzdem jagt mir die Enge und Dunkelheit dieser Passage
    einen Schauer über den Rücken.
    Die Adresse auf meinem DataPad führt mich zu einer unscheinbaren Tür, eingelassen in eine Wand aus beigem Regolith. Ein seitlich montiertes Identmodul aktiviert sich,
    sobald ich näherkomme. Ein kurzer Lichtimpuls tastet mein Gesicht ab – biometrische Erkennung. Sekunden später öffnet sich die Tür mit einem leisen Summen.
    Ich atme auf, als ich die Schwelle überschreite und das Gebäude betrete.
    Drinnen empfängt mich eine schlichte Lobby. Drei Aufzugstüren reihen sich gegenüber auf, eine davon steht bereits offen. Kein Mensch weit und breit. Über der geöffneten
    Tür leuchtet mein Name – eine Einladung.

    Ich zögere kurz, dann nehme ich die Einladung an und trete neugierig in die Kabine. Die Tür schließt sich lautlos hinter mir. Kaum spürbar setzt sich der Lift in Bewegung
    und innerhalb von Sekunden habe ich die Zugangsebene hinter mir gelassen. Die Level auf der Anzeige rasen nur so vorbei. Noch bevor ich begreife, wie mir geschieht,
    bremst der Aufzug bereits wieder ab - Level 132.
    Die Tür gleitet geräuschlos auf und gibt den Blick auf das 132. Stockwerk frei. Vor mir liegt ein schlichter, geradliniger Gang. Die Wände sind in neutralem Weiß gehalten,
    Der Boden mit einem glatten, harten Belag versehen, der meinen Schritten einen kühlen hallenden Klang verleiht. Das leise Summen der Deckenbeleuchtung ist das
    einzige Geräusch, das meine Schritte begleitet. Der Flur liegt still. Menschenleer.

    Mein DataPad zeigt die Zimmernummer 132-23. Ich folge dem Gang, vorbei an Türen, die in regelmäßigen Abständen rechts und links abgehen. Die erste Tür rechts
    trägt die Nummer 132-01, gegenüber liegt 132-02. Mein Ziel befindet sich also auf der rechten Seite.
    Ich zähle elf weitere Türen, überprüfe jede Nummer im Vorbeigehen, bis ich schließlich vor 132-23 zum Stehen komme.
    Mein Herz rast vor Aufregung. Ich trete näher an den Wandscanner. Ein weiterer Lichtimpuls tastet über mein Gesicht. Für einen Moment bleibt alles still, als würde das
    System überlegen. Dann ein leises Klicken. Die Tür entriegelt sich und schwingt langsam nach innen auf.
    Der Raum dahinter misst kaum mehr als zwölf, vielleicht dreizehn Quadratmeter. Die Wände spiegeln das sterile Weiß des Flurs wider. Direkt gegenüber der Tür befindet
    sich ein großes Fenster, doch obwohl ich mich auf Ebene 132 befinde, fällt nur spärlich Tageslicht herein. Der Ausblick endet an der Fassade des gegenüberliegenden
    Gebäudes: ebenso farblos, ebenso trostlos.

    An der rechten Wand ist eine einfache Pritsche montiert, das frische Bettzeug darauf ordentlich gefaltet. Gegenüber steht ein schmaler Schreibtisch, darüber hängt ein
    veralteter Projektionsschirm - derzeit deaktiviert. Ein schlichter Bürostuhl komplettiert den funktionalen Arbeitsplatz.
    Daneben steht ein kompakter Schrank, offenbar die einzige Möglichkeit persönlichen Kram in diesem winzigen Raum zu verstauen.
    Erst jetzt fällt mir eine Tür auf, die ich zuvor übersehen hatte. Sie führt in ein kleines Badezimmer mit Toilette und Dusche. Die Einrichtung ist schlicht, aber sauber und
    gut instandgehalten. Zu meiner Überraschung entdecke ich dort eine weitere Tür, die vom Badezimmer aus abgeht, vermutlich in das benachbarte Zimmer. Offenbar
    teilen sich jeweils zwei Einheiten ein Bad eine effiziente Lösung in einem Gebäude, das auf maximale Raumnutzung ausgelegt ist.
    Erschöpft lasse ich mich auf die Pritsche sinken. Das ist es also. Willkommen in meinem neuen Zuhause.
    Auf den ersten Blick wirkt alles etwas Bescheiden – karg, funktional. Und doch… ich denke, ich werde das Beste daraus machen. Ein wenig Dekoration hier und da,
    ein paar persönliche Gegenstände, und schon wird aus diesem nüchternen Raum mein kleines Reich auf Zeit. Gemütlichkeit ist schließlich auch eine Frage der Perspektive.
    Geändert von PhoneBone (10.10.2025 um 18:42 Uhr)

  6. #6
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    SPIEGELBILD

    Jemand trat durch die geöffnete Tür.
    »Verdammt«
    Die Stimme gehörte einem Mann. Ich versuchte mich zu bewegen, ihm irgendwie zu signalisieren, dass ich bei Bewusstsein war. Doch mein Körper fühlte sich an, als würde er mir nicht gehören.
    Der Mann kniete sich neben mich. Ein Pfleger. Mitte vierzig vielleicht, ernste Augen, eine leichte Unordnung im kurzgeschnittenen Haar. Sein Blick prüfend. Lose Elektroden. Blutstropfen auf dem Boden.
    »Hören Sie mich?«
    Ich öffnete den Mund.
    Nichts.
    Etwas in meiner Kehle spannte sich, ein unkontrolliertes Ruckeln ging durch meine Lippen, aber kein Laut kam darüber.
    Der Pfleger runzelte die Stirn. »Okay. Nicht sprechen.« Seine Hand ruhte beruhigend auf meinem Arm. Dann aktivierte er das Gerät an seinem Handgelenk.
    »Patient 00632 ist gestürzt. Ich brauche sofort Unterstützung.«
    Er klang ruhig, aber sein Blick verriet, dass er das nicht erwartet hatte. Ich auch nicht.
    Der Pfleger blieb bei mir, während wir warteten. »Keine plötzlichen Bewegungen, ja?«
    Als hätte ich eine Wahl.
    »Sie haben wohl versucht aufzustehen?«
    Ich nickte. Zumindest das konnte ich.
    Er atmete langsam aus. »Das dachte ich mir.«
    Hinter ihm hörte ich Schritte. Sie kamen näher.
    »Alles gut, Hilfe kommt«, murmelte er und legte eine Hand auf meine Schulter, während er sich halb aufrichtete. Sein Griff war fest, aber nicht unangenehm. »Wir bringen Sie wieder ins Bett, okay?«
    Ein Teil von mir wollte protestieren. Wollte sagen, dass ich nicht einfach wieder zurück in diese sterile Starre konnte. Aber mein Körper war anderer Meinung. Und meine Stimme existierte ohnehin nicht.
    Also blieb mir nur, den Blick zur Decke zu richten, während fremde Hände mich behutsam anpackten und mein eigenes Gewicht für mich übernahmen. Sie hoben mich vorsichtig zurück aufs Bett.
    Ich spürte den Druck der Matratze unter mir, dann das kühle Laken. Jemand strich die Decke über meine Beine.
    »Wir setzen die Infusion neu«, sagte die Stimme des Pflegers, der mich gefunden hatte. Ein anderer beugte sich über mich und überprüfte die Elektroden, die noch lose an meiner Brust klebten.
    Ich versuchte, mich auf ihre Gesichter zu konzentrieren, etwas Vertrautes in ihnen zu finden. Aber sie waren mir so fremd wie alles andere in diesem Raum.
    Der erste Pfleger blieb an meiner Seite, während die anderen sich um die Geräte kümmerten.
    »Keine Sorge«, sagte er leise. »Alles ist in Ordnung.«
    Eine leere Beruhigung. Nichts war in Ordnung. Gar nichts.
    Einige Minuten später war ich wieder allein.
    Der Monitor neben meinem Bett summte leise. Ich drehte meinen Kopf, er zeigte eine Reihe von Werten – wahrscheinlich meine.
    Ich betrachtete die Werte einen Augenblick, sie sagten mir nichts. Dann sah ich es.
    Dort, in der dunklen Oberfläche des Monitors, spiegelte sich etwas.
    Jemand.
    Mir stockte der Atem.
    Ein Gesicht starrte mir entgegen. Blass, scharf geschnitten, fremd. Dunkle Schatten lagen unter den Augen, die Haut wirkte fahl, als hätte sie zu lange kein Sonnenlicht gesehen.
    Die Wangen eingefallen, der Mund eine dünne Linie.
    Ich kannte dieses Gesicht nicht. Aber es war meines.

  7. #7
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    INSTANT NUDELN

    Die paar Habseligkeiten, die ich besitze, finden mühelos Platz in dem kleinen Schrank. Zwei DataPads, ein Stapel einfacher Kleidungsstücke – das ist im Grunde alles.
    Eins der Pads lege ich griffbereit auf den Schreibtisch, das andere wandert zu den Overalls in den Schrank. Beim Auspacken stoße ich ganz unten im Rucksack auf etwas, das ich fast vergessen hatte:
    meinen kleinen, abgenutzten Gummi-SpongeBob.
    Ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit.
    Er bekommt natürlich einen Ehrenplatz – mitten auf dem Schreibtisch.
    Der Anblick der Figur löst etwas in mir aus. Eine Welle von Erinnerungen, warm und schmerzhaft zugleich. Ich sehe mich wieder auf dem Sofa, eng an meinen Vater gelehnt, während wir gemeinsam
    SpongeBob auf seinem DataPad schauten. Dieser gelbe Schwamm hatte eine seltsame Gabe: Er brachte uns zum Lachen. Immer. Bedingungslos. Egal, wie der Tag gewesen war. Es waren unsere
    intimsten und glücklichsten Momente. Augenblicke, in denen die Welt draußen stillstand.

    Bikini Bottom war unser Zufluchtsort. Eine absurde, kleine Oase des Lachens, in der alles möglich schien – und in der wir einfach wir selbst sein konnten.
    Ein warmes Lächeln huscht über mein Gesicht. Doch dann zieht etwas Dunkles an meiner Erinnerung. Wie ein Raubtier, das sich lautlos anschleicht. Diese eine Erinnerung. Sie ist immer da. Lauernd.
    Bereit, mich in ihren eisigen Griff zu nehmen.
    Bilder flackern auf. Gell. Schmerzhaft. Sie breiten sich aus wie eine Wunde in meinem Geist, reißen alles andere mit sich fort.
    Nicht hier! Nicht jetzt!
    Panik flammt auf. Mein Atem geht stoßweise. Ich versuche, mich zu konzentrieren, zwinge mich, ruhig zu atmen. Die Vergangenheit hat hier keine Bedeutung mehr, rede ich mir ein.
    Ich bin auf dem Mars. Weit weg von allem.
    Aber die Angst lässt sich nicht so einfach abschütteln.
    Sie kennt keine Entfernung. Keine Zeit. Nur den Weg zurück in meinen Kopf.
    Ich fokussiere mich auf meine Atmung. Zähle die Sekunden zwischen den Atemzügen. Die dünne, kalte Marsluft beißt in meinen Lungen, wie die eisige Erinnerung, die versucht, mich zu ersticken.
    Jeder Atemzug schmeckt nach Metall. Doch ich zwinge mich weiterzuatmen, halte mich an den Rhythmus, an den Fluss der Luft, der durch meine Lungen strömt. Ein Trick, den ich mir angewöhnt habe.
    Ein Anker, wenn die Panik droht, mich zu überrollen. Mit jedem Atemzug kehrt ein wenig Klarheit in meinen Kopf zurück. Die Bilder verblassen, der Druck auf meiner Brust lässt nach.
    Schließlich wird mein Atem wieder ruhig. Gleichmäßig. Ich habe es im Griff. Zumindest für den Moment.

    Noch benommen strecke ich die Hand aus und aktiviere den Projektionsschirm über dem Schreibtisch. Ich brauche dringend Ablenkung.
    Ohne mein Zutun startet eine virtuelle Tour durch meine neue Unterkunft. Eine freundliche, weibliche Stimme erklingt aus dem Lautsprecher.
    »Willkommen in der Elysium Prime Residence. Wir freuen uns, dich als Teil unserer Gemeinschaft begrüßen zu dürfen.«
    Die Worte werden von einer animierten Visualisierung begleitet, stilistische Darstellungen der verschiedenen Einrichtungen, die das Gebäude zu bieten hat.
    »Im 135. Stock findest du unsere Gemeinschaftsräume - darunter eine Lounge, eine Küche, ein Fitnessstudio und einen Gartenbereich«, erklärt die Stimme weiter, während auf dem Bildschirm
    dreidimensionalen Darstellungen der Räume erscheinen. Ich tippe auf das Symbol für das Fitnessstudio. Sofort startet eine kurze Animation: Menschen laufen auf Laufbändern,
    umgeben von einer virtuellen Marslandschaft – rote Felsen, weiter Horizont, ein digitaler Sonnenuntergang.
    Ein weiterer Klick bringt mich in den Garten. Plötzlich bin ich umgeben von üppigem Grün, farbenfrohen Blumen, sanft plätschernden Wasserläufen. Alles wirkt so viel lebendiger als mein kleines karges Zimmer.
    »Du kannst die Einrichtungen zu jeder Zeit nutzen, um andere Bewohner zu treffen oder dich zu entspannen«, fährt die Stimme fort.
    Der Gedanke, diese Gemeinschaftsräume tatsächlich aufzusuchen, macht mich nervös. Sozialkompetenz war nie meine Stärke, und die Vorstellung, fremden Menschen zu begegnen,
    vielleicht sogar ein Gespräch führen zu müssen, das über belanglosen Smalltalk hinausgeht, lässt meine Hände jetzt schon feucht werden.
    »Die gemeinschaftlichen Einrichtungen sind mit allen notwendigen Annehmlichkeiten ausgestattet. Du kannst hier essen, kochen, entspannen und Sport treiben - wann immer es dir passt«,
    schließt die Stimme, bevor der Bildschirm in den Stand-by-Modus wechselt.

    Ich starre noch einen Moment auf das dunkle Display. Die Stille im Raum scheint plötzlich lauter als zuvor, Und mit ihr kommt die Erkenntnis: Ich bin allein. Schon seit einer halben Ewigkeit.
    Vielleicht… sollte ich es wagen. Mich unter Menschen begeben. Auch wenn der Gedanke mir Unbehagen bereitet und ich mir noch nicht sicher bin, wie ich es vermeiden kann, dabei über meine eigenen Füße zu stolpern.
    Mein Magen meldet sich – laut und unmissverständlich. Ich könnte natürlich versuchen, mich unauffällig in die Küche zu schleichen und etwas Essbares zu finden und dann wieder in mein Zimmer verschwinden.
    Ja, das wäre eine Option.
    Aber wer weiß - vielleicht finde ich ja den Mut mich unter die anderen Bewohner zu mischen. Und wenn ich es heute ausnahmsweise schaffe, mich nicht über den miesen Kaffee zu beschweren…
    was könnte schon schiefgehen?

    Die Gemeinschaftsräume befinden sich drei Stockwerke höher, erreichbar über einen separaten Lift am Ende meines Ganges. Als sich die Aufzugstüren im 135. Stock öffnen, schlägt mir sofort ein Schwall aus Stimmen
    und Gelächter entgegen, das aus den verschiedenen Räumen dringt. Ein Ort voller Leben, ganz anders als der stille Korridor meines Stockwerks.
    Ich zögere kurz, dann trete ich in den langen Gang, gesäumt von Türen zu beiden Seiten. Die erste Tür links trägt die Aufschrift Küche.
    Zu meiner Erleichterung entdecke ich dort einen Instant-Automaten. Kochen war nie meine Stärke – ich gehöre zu den wenigen Menschen, die es schaffen, selbst Nudeln im Kochwasser anbrennen zu lassen.
    Der Touchscreen des Automaten präsentiert mir eine beeindruckende Auswahl: synthetische Mars-BBQ-Rippchen, exotische Fusion-Kreationen, sogar vegane Sushi-Varianten. Ich scrolle durch die Optionen,
    lasse mich kurz von der Vielfalt blenden – und entscheide mich dann doch für den Klassiker: Instantnudeln mit Tomatensoße. Ein Gericht, das mir schon oft das Leben gerettet hat.
    Die Maschine summt zufrieden und beginnt mit der Zubereitung, während ich meinen Blick durch die Küche schweifen lasse. Das Kochfeld wirkt abgenutzt, die Markierungen sind kaum noch zu erkennen
    – Spuren zahlloser Mahlzeiten, die hier schon zubereitet wurden. In den Schränken darüber lagern vermutlich die zugehörigen Töpfe und Utensilien, die sicher schon Generationen von Bewohnern gesehen haben.
    Ehrlich gesagt: Ich bezweifle, dass ich jemals in Versuchung komme, diese Schränke zu öffnen
    .
    Ein kleiner, unscheinbarer Kasten an der Wand erregt meine Aufmerksamkeit. Auf den ersten Blick wirkt er unspektakulär, doch der IdentScanner an der Seite macht mich neugierig.
    Ich trete näher und aktiviere ihn. Für einen Moment passiert nichts. Schon will ich mich abwenden, da ertönt ein leises Rattern, und die Klappe öffnet sich. Kalte Luft strömt heraus, benetzt mein Gesicht
    mit einer dünnen Schicht von Kondenswasser.
    Ein Kühlraum. Offenbar hat jeder Bewohner seine eigene Parzelle. Das hier ist dann wohl meine. Ich werfe einen Blick hinein – leer. Natürlich. Was hatte ich erwartet? Einen Korb frischer Äpfel?
    In der Mitte des Raums steht ein massiver Esstisch, der schon bessere Tage gesehen hat. Seine Oberfläche ist von Kratzern und Gebrauchsspuren gezeichnet. Und doch strahlt er etwas aus – Geschichte,
    Gemeinschaft. Wie viele Menschen haben hier wohl schon gesessen, gegessen, gelacht, gefeiert?

    Ein Fenster in der gegenüberliegenden Wand bietet einen atemberaubenden Blick auf die Stadt unter uns. Das diffuse Licht der Mars-Sonne taucht den Raum in ein sanftes Rot.
    Eine junge Frau betritt die Küche. Ihre dunklen, kurzen Haare stehen in alle Richtungen ab, ungekämmt und wild, und doch liegt darin eine seltsame Ordnung, als hätte jedes Strähnchen genau seinen Platz.
    Ihre Kleidung ist schlicht, funktional. Nichts Auffälliges. Und trotzdem füllt sie den Raum mit einer Präsenz, die man schwer ignorieren kann. Sie ist nicht laut oder aufdringlich,
    sondern ruhig und irgendwie selbstverständlich, als wäre sie der natürliche Mittelpunkt, ohne sich darum bemühen zu müssen.
    »Hola, wie läuft's?«
    Ihre Stimme ist warm, freundlich, als würden wir uns schon ewig kennen. Ein Hauch von spanischem Akzent schwingt mit – kaum hörbar, aber unverkennbar.
    Ohne auf eine Antwort zu warten, tritt sie an mir vorbei, als wäre meine Anwesenheit nicht weiter von Bedeutung. Zielstrebig steuert sie auf den Kühlkasten zu. Ich beobachte, wie sich die Klappe öffnet.
    Anders als vorhin ist die Box nun prall gefüllt mit frischem Gemüse, verpackten Fertiggerichten und bunten Getränkeflaschen. Offenbar ist das hier ihre Parzelle.
    Zugegeben - der Anblick lässt einen Anflug von Neid in mir aufsteigen. Doch ich lasse mir nichts anmerken.
    »Ich warte darauf, dass mir dieser Instant-Automat hoffentlich genießbare Nudeln ausspuckt«, sage ich schließlich. »Bis jetzt läuft’s ganz okay.«
    Gelassen greift sie nach einem Joghurt und einer Flasche Wasser, mustert mich kurz - und grinst
    »Ich bin sicher, der Automat legt sich für dich extra ins Zeug. Ich bin übrigens Lisa. Bist du neu hier?«
    Ich nicke »Ja, gerade erst angekommen. Ich bin Timo… aber alle nennen mich 'Shade'.«
    Ein sanftes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
    »Schatten? Wirklich? Interessanter Spitzname. Aber hey - solange du nachts nicht durch die Zimmer schleichst und den Bewohnern das Blut aus den Adern saugst…«
    Ein gequältes Lächeln zuckt über mein Gesicht.
    »Ja, 'Shade'…«, murmle ich. »Das hat angefangen, als ich noch ein Kind war. Damals war ich…ziemlich unauffällig, glaube ich.«
    Ich blicke auf. Lisa lehnt sich lässig gegen den Küchenschrank, nippt an ihrer Flasche und sieht mich noch immer an.
    »Unauffällig?« Sie zieht eine Augenbraue hoch und grinst. »Das kann ich mir kaum vorstellen. Du wirkst nicht wie jemand, der sonderlich unauffällig ist.«
    Ihre Worte treffen mich unerwartet. Ich zucke mit den Schultern, lächle schwach.
    »Damals schon. Ich war der Typ, den niemand wahrgenommen hat. Sogar den selbstgefälligen Arschlöchern, die sonst Kinder wie mich drangsalieren, war ich zu langweilig.
    Erst verpassten sie mir den Spitznamen Schatten, dann wurde daraus irgendwann Shade. Das war’s.«
    Lisa betrachtet mich einen Moment lang. Ihr Blick ist ruhig, nachdenklich. Ich weiß nicht, ob sie wirklich an meiner Geschichte interessiert ist oder einfach nur höflich zuhört.
    »Shade… klingt irgendwie cool«, sagt sie schließlich. »Wie ein Superheld.«
    Ich lache leise.
    »Ja, genau das dachte ich irgendwann auch. Ich mochte die Vorstellung, ein Superheld zu sein. Mit Superkräften.«
    Es fühlt sich seltsam an, das laut auszusprechen – zu persönlich. Zu kindlich vielleicht. Doch Lisa nickt ernst, als hätte sie genau das erwartet.
    »Vielleicht hast du ja wirklich eine geheime Superkraft. Du weißt nur noch nichts davon«, meint sie augenzwinkernd, während sie den Joghurt öffnet.
    Ich sehe sie an, versuche in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie mich aufzieht. Aber sie wirkt entspannt. Aufrichtig.
    »Vielleicht« sage ich schließlich, mit einem Hauch Ironie in der Stimme. »Oder ich bin einfach gut im Verstecken.«
    »Verstecken ist auch eine Kunst«, erwidert Lisa mit einem Lächeln. »Vielleicht sogar eine Superkraft.«
    Für einen Moment entsteht eine angenehme Stille zwischen uns. Dann piept der Automat und reißt mich aus meinen Gedanken. Die Nudeln sind fertig.
    »Tja«, sage ich und drehe mich zum Automaten, »dann werde ich mal sehen, ob diese Nudeln auch Superkräfte verleihen.«
    Lisa lacht leise.
    »Sag mir Bescheid, wenn sie es tun.«

    Sie greift nach ihrer Wasserflasche und macht sich auf den Weg zur Tür. Bevor sie die Küche verlässt, dreht sie sich noch einmal zu mir um.
    »Hey - falls du nachher noch Zeit hast: in der Lounge sitzen ein paar interessante Leute rum. Es lohnt sich, sie kennenzulernen.«
    Ich blicke ihr nach. Überrascht von dem Angebot. Im Raum bleibt ein seltsames Gefühl zurück – Vertrautheit, obwohl wir uns nicht kennen. Als hätte diese kurze Unterhaltung etwas geöffnet,
    das ich lange verschlossen gehalten habe.
    Ich bleibe stehen, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet. Lisas Worte hallen in mir nach. Interessante Leute. Kennenzulernen.
    Das war nie meine Stärke gewesen – das Kennenlernen. Ich war immer der Typ, der lieber am Rand blieb. Unauffällig. Still. Doch irgendwas ist diesmal anders. Vielleicht liegt es an Lisa. An ihrer Art,
    die Dinge so selbstverständlich und leicht wirken zu lassen.
    Ich schiebe mir eine Gabel Nudeln in den Mund, aber mein Kopf ist längst in der Lounge. Vielleicht sollte ich wirklich hingehen.
    Sozialisieren ist definitiv nicht meine Superkraft - aber vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht auf den Mars reisen müssen, nur um genauso weiterzumachen wie bisher.
    Mein altes Leben hätte ich genauso gut auf der Erde fortsetzen können.
    Aber das hier… das soll ein echter Neuanfang sein. Neue Umgebung. Neue Menschen. Neue Möglichkeiten. Und das bedeutet auch, Dinge anders anzugehen.
    Vielleicht ist jetzt der Moment, endlich aus dem Schatten zu treten.

  8. #8
    Mitglied Avatar von PhoneBone
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    Kurze Zwischenfrage: Liest das jemand, also soll ich noch ein paar mehr Kapitel hier reinstellen? Oder ist das Interesse eher gering? Frage für einen Freund

  9. #9
    Mitglied Avatar von PhoneBone
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    scheint eher kein Interesse zu bestehen. Auch gut

  10. #10
    Mitglied Avatar von frank1960
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    Zitat Zitat von PhoneBone Beitrag anzeigen
    scheint eher kein Interesse zu bestehen. Auch gut
    Über 1400 mal aufgerufen. Hier in diesem Bereich hab Ich das Gefühl, wird selten kommentiert. Also nicht aufgeben. Ich habe den ersten Abschnitt mitgelesen, konnte aber durch bestimmte Umstände nichts dazu sagen. Mir kam in den Sinn, guter Stoff für eine (oder mehrere, mit einander verbundenen) Kurzgeschichten, weiß aber natürlich nicht, was du im Schilde führst, obwohl, wie du selbst erklärst, Ausschnitt eines grösseren Projektes. Mir ist leider die Geduld abhanden gekommen, mich auf längere Texte einzulassen, es trotzdem bis hierher geschafft und finde deine Schreibe tatsächlich durchaus beeindruckend. Also, Shade, gibs weiterhin dem Mertens.
    The Importance of Being Earnest

  11. #11
    Mitglied Avatar von PhoneBone
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    Zitat Zitat von frank1960 Beitrag anzeigen
    Über 1400 mal aufgerufen. Hier in diesem Bereich hab Ich das Gefühl, wird selten kommentiert. Also nicht aufgeben. Ich habe den ersten Abschnitt mitgelesen, konnte aber durch bestimmte Umstände nichts dazu sagen. Mir kam in den Sinn, guter Stoff für eine (oder mehrere, mit einander verbundenen) Kurzgeschichten, weiß aber natürlich nicht, was du im Schilde führst, obwohl, wie du selbst erklärst, Ausschnitt eines grösseren Projektes. Mir ist leider die Geduld abhanden gekommen, mich auf längere Texte einzulassen, es trotzdem bis hierher geschafft und finde deine Schreibe tatsächlich durchaus beeindruckend. Also, Shade, gibs weiterhin dem Mertens.
    Hui...sehe den Kommentar jetzt erst. Danke Frank! Tatsächlich handelt es sich hier um die ersten 7 Kapitel eines bereits fertig geschriebenen Romans, der insgesamt 85 Kapitel umfasst (ca. 500 Standardseiten). Momentan wird er gerade von mehreren Personen testgelesen und gleichzeitig überarbeite ich den Text auch gerade nochmal komplett (nicht inhaltlich, nur die Formulierungen, quasi ein Eigen-Lektorat). Ich plane nächstes Jahr dann vielleicht auch ein professionelles Lektorat (je nachdem, wie die Test-Lesungen abschneiden). Dann sehen wir mal weiter

  12. #12
    Mitglied Avatar von frank1960
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    Hört sich vielversprechend an. Demnächst womöglich in Buchform? Da können wir gespannt sein.
    Vielleicht darf Ich bescheidenerweise erwähnen, dass meine Versuche in diese Richtung keine Früchte getragen haben. Mein "Kriminalroman" war schon nach wenigen Seiten als ernüchterndes Fiasko zu identifizieren. Zu viel klischeehafte Ironie, vollgepackt mit Handlung, als wenn Ich den Fall schon im ersten Kapitel lösen wollte. Dabei keinen Plan, wo das alles hin sollte. Einfach drauf los geschrieben. Funktionierte überhaupt nicht. Frustrierendes Ende einer hoffnungslosen Schriftstellerkarriere.
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  13. #13
    Mitglied Avatar von PhoneBone
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    Okay, machen wir noch ein bisschen weiter. Vielleicht interessiert sich ja doch noch jemand

    IDENTITÄT

    Ein leises Geräusch riss mich aus dem Schlaf – das Surren der Tür.
    Ich blinzelte ins gedimmte Licht. Mein Körper fühlte sich schwer an, meine Glieder schienen mir noch immer nicht ganz zu gehören.
    Ein Mann stand am Fußende meines Bettes.
    Mittleres Alter, weiche Gesichtszüge, ein kühler, aber nicht unfreundlicher Blick. Sein weißer Kittel war makellos, ein schmaler ID-Chip funkelte an seiner Brust. In den Händen hielt er ein DataPad.
    »Guten Morgen«, sagte er.
    Seine Stimme war ruhig, abwartend.
    Ich sagte nichts.
    Er musterte mich kurz, dann trat er näher. »Wie fühlen Sie sich?«
    Ich suchte nach einer Antwort. Was sollte ich sagen? Dass mein Kopf sich anfühlte, wie ein leeres Blatt? Dass mein Körper ein nutzloser Haufen Fleisch war, der mir nicht gehorchte?
    »Ssch…sch..wach….«, brachte ich mühsam hervor. Es klang rau, fast wie, wenn ich versuchen würde, ein mir fremdes Instrument zu spielen.
    Er nickte, als hätte er das erwartet. »Es wird noch dauern, bis Ihre Stimme wieder normal funktioniert.« Er schien nicht sonderlich besorgt. »Es wird langsam besser werden«, fügte er hinzu.
    »Sie haben sich lange nicht bewegt. Der Körper braucht Zeit.«
    Er tippte etwas in sein Tablet, dann musterte er mich erneut.
    »Erinnern Sie sich an Ihren Namen?«
    Die Antwort war einfach und sie machte mir eine Scheißangst.
    »Nein.«
    Er legte den Kopf leicht schief, musterte mich, als hätte ich gerade etwas Interessantes gesagt. Dann lächelte er. »Gedächtnisverlust nach längerer Bewusstlosigkeit ist nicht ungewöhnlich.«
    Seine Finger glitten erneut über das DataPad. »Erinnern Sie sich an irgendwas? Einen Ort, eine Person, ein Ereignis?«
    Ich versuchte es. Wirklich. Suchte in meinem Kopf nach etwas Vertrautem, nach einem Bild, einer Stimme, einer Erinnerung, die mir gehörte.
    Doch da war nichts als Leere. Kein verschwommenes Gesicht, keine Geräusche, noch nicht einmal ein Gefühl.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Interessant« murmelte der Arzt und machte sich eine Notiz. »Ihr Zustand ist stabil – das ist zunächst das Wichtigste.« Er schrieb weiter, dann sah er auf.
    »Ihr Körper muss sich langsam wieder an Bewegung gewöhnen. Wir beginnen mit physiotherapeutischen Übungen. Der Einstieg wird beschwerlich sein, aber Sie werden rasch Fortschritte machen.«
    Fortschritte. Ein Wort, das nach Zukunft klang. Ich hatte nicht mal eine Vergangenheit.
    »Sie waren sehr lange bewusstlos«, sagte er. »Ihrem Zustand nach zu urteilen, müssen es Wochen gewesen sein. Vielleicht sogar Monate.«
    Eine eisige Kälte kroch mir durch die Eingeweide. »Aber… wer… hat mich hierher… gebracht?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
    »Man hat Sie auf einer Bahre in der Notaufnahme gefunden. Alleine. Wir haben die Aufnahmen der Überwachungskameras geprüft«, beginnt er langsam.
    »Zwei Männer in Sanitäter Uniformen haben Sie herein geschoben. Sie blieben nur wenige Minuten, haben mit niemandem gesprochen. Dann sind sie gegangen.«
    Mein Herz begann zu rasen. »Und… Sie wissen nicht, wer sie waren?«
    »Nein.« Seine Stimme war kühl, sachlich. »Ihre Uniformen hatten keine Kennzeichnung. Wir haben ihre Gesichter durch unsere Datenbank gejagt. Kein Treffer.«
    Ich schluckte. »Wer… bin ich?« Meine Zunge fühlte sich an wie Schleifpapier, aber diesmal waren meine Worte klarer, fester.
    Der Arzt senkte den Blick, als wolle er seine Worte erst sortieren. »Das ist der zweite Punkt.« Eine Pause, dann: »Sie wurden ohne Identifikation eingeliefert.
    Kein ID-Chip, keine Papiere, keine persönlichen Gegenstände. Nichts.«
    Ich spürte, wie sich meine Finger in das Bettlaken krallten.
    »…selbst ihre Fingerabdrücke sind in unserem System nicht hinterlegt.«
    »Dann… weiß niemand, wer ich bin?«
    Der Arzt hob den Blick und sah mir in die Augen. Lange. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«

  14. #14
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    DIE LOUNGE

    Der Flur, der zur Lounge führt, ist hell erleuchtet. die Wände - wie überall im Gebäude – präsentieren sich in einem nüchternen, unauffälligen Grau.
    Die Lounge selbst ist größer als ich erwartet habe, mit einer Vielzahl an niedrigen Tischen, um die sich tiefe Sessel und gemütlich aussehende Sofas gruppieren.
    Das Licht ist gedämpft, deutlich wärmer als das im Gang, insgesamt strahlt der Raum eine angenehm entspannte Atmosphäre aus.
    Ich entdecke Lisa, die an einem der Tische inmitten einer kleinen Gruppe sitzt. Sie winkt mir fröhlich zu.
    »Shade!«, ruft sie über die Runde hinweg. »Komm her, ich möchte dir die anderen vorstellen.«
    Ich erwidere ihr Winken und schlendere langsam hinüber zu dem vollbesetzten Tisch - bemüht, meine Nervosität nicht allzu offensichtlich werden zu lassen.
    Ganz gelingt mir das nicht.
    Der Erste, der mir ins Auge fällt, ist ein Mann mit auffallend leuchtend blauen Haaren.
    »Das hier ist Alex«, sagt Lisa, und er hebt mit einem breiten, offenen Grinsen die Hand zum Gruß.
    »Ingenieur«, ergänzt sie. »Er tüftelt an neuen Antriebssystemen.«
    Alex‘ Grinsen wird noch ein wenig breiter. »Vielleicht bringe ich uns eines Tages schneller zu den Sternen.«
    »Kommt wohl drauf an, ob die Physik mitspielt«, entgegne ich und versuche dabei krampfhaft locker zu klingen.
    »Tut sie nicht immer«, meint Alex mit einem Schulterzucken. »Aber ich arbeite daran, sie mir gefügig zu machen.«
    Sein trockener, pragmatischer Humor gefällt mir sofort. Keine großen Worte, keine überzogenen Gesten - aber er wirkt wie jemand, der anpackt und Dinge möglich macht.
    »Und das hier ist Maria«, sagt Lisa und deutet auf die Frau gegenüber von Alex. Sie trägt einen auffällig makellos weißen Overall. Kein einziger Fleck, keine Spur von Abnutzung.
    Als wäre er gerade erst aus der Verpackung genommen worden. Ihre Haltung ist ruhig, fast reglos, doch in ihren Augen liegt eine wache Präsenz.
    Sie mustert ihre Umgebung mit der stillen Intensität einer Forscherin, als würde sie unaufhörlich nach winzigen Veränderungen suchen, die alles bedeuten könnten.
    »Ihre Welt ist die der Pflanzen«, erklärt Lisa. »Eine fragile Welt – besonders hier, auf einem Planeten, der das Leben nicht gerade willkommen heißt.«
    Maria hebt den Kopf. Eine kleine, kontrollierte Bewegung, die dennoch Wirkung zeigt. Ihr Gesicht strahlt Konzentration aus, durchzogen von einer leisen Freundlichkeit,
    die echt wirkt – nicht aufgesetzt, sondern tief verwurzelt. »Ich arbeite vor allem an der Anpassung von Pflanzen an die Bedingungen hier auf dem Mars«, sagt sie.
    Ihre Stimme ist ruhig und klar, wie die einer Person, die weiß, was sie tut – und keine großen Worte braucht, um das zu beweisen.
    »Klingt spannend«, sage ich, bemüht, ihrer Ernsthaftigkeit gerecht zu werden. In Wahrheit verstehe ich kaum etwas von Pflanzen.
    Aber irgendetwas an ihr – an der Art, wie sie spricht, wie sie sich bewegt – lässt keinen Zweifel daran, dass Präzision für sie mehr ist als nur ein Prinzip.
    Es ist ihr Wesen. Ihr Overall wirkt, als hätte er nie einen Fleck gesehen. Als wäre ihre Arbeit ebenso makellos wie ihr Auftreten.
    Und vielleicht ist sie genau das: jemand, der Ordnung in eine Welt bringt, die sich dem Leben widersetzt.
    Ein paar Plätze weiter sitzt ein älterer Mann, den ich bisher kaum wahrgenommen habe. Er wirkt, als sei er nur körperlich anwesend – der Geist irgendwo anders,
    tief versunken in die Inhalte seines DataPads. Seine Finger gleiten ruhig, fast meditativ über das Display, als folgten sie einer vertrauten Choreografie.
    Sein Gesicht kommt mir seltsam vertraut vor. Nicht auf eine konkrete Weise, eher wie ein Echo. Wie ein Bild aus einem Traum, das sich beim Erwachen nicht mehr greifen lässt.
    »Das ist Dr. Williams«, sagt Lisa leise, fast ehrfürchtig. »Früher Geschichtsprofessor. Heute dokumentiert er die Marskolonisation. Wenn es um Missionen, Namen, Daten geht – er kennt sie alle.«
    Dr. Williams hebt kurz den Blick. Ein flüchtiges Nicken, kaum mehr als ein Hauch von Geste. Dann kehrt seine Aufmerksamkeit zurück zum Bildschirm.
    Doch dieser eine Moment – dieser Blick – löst etwas in mir aus. Etwas Unbestimmtes. Für einen Wimpernschlag lang habe ich das Gefühl, er hätte mich durchschaut.
    Nicht gesehen, sondern erkannt.
    Ich schüttle innerlich den Kopf. Unsinn. Ich kenne ihn nicht. Und doch bleibt das Gefühl, als würde ein Teil von mir versuchen, sich zu erinnern.
    Ein leiser Druck legt sich auf meine Brust. Nicht unangenehm, aber hartnäckig. Ich zwinge mich, den Gedanken loszulassen.
    Vielleicht ist es nur die Müdigkeit. Oder die dünne Luft. Oder beides.
    »Und der junge Mann hier ist Mark«, sagt Lisa, während dieser mir mit einem breiten Grinsen locker zunickt. »Geologie Student«, ergänzt sie. »Wenn jemand den Mars kennt, dann er.«
    »Gestein und Staub«, sagt Mark - und klingt dabei, als spräche er von einem Schatz, nicht von trockener Materie. »Der Planet erzählt dir viel, wenn du ihm zuhörst.«
    Ich muss schmunzeln. »Du scheinst dich ja richtig in den Mars verliebt zu haben.«
    »Nichts geht über eine gesunde Beziehung zum Boden, auf dem du stehst«, erwidert er mit einem Augenzwinkern. Irgendwie mag ich ihn sofort.
    »Wenn du mal nicht schlafen kannst, lass dir von Mark einfach alles über die Zusammensetzung des Marsbodens erzählen«, ruft Alex lachend dazwischen.
    Mark zuckt mit den Schultern, als wäre das gar keine schlechte Idee. »Ich garantiere dir: Nach zehn Minuten bist du entweder eingeschlafen – oder du willst selbst Geologe werden.«
    »Und zu guter Letzt haben wir Emily«, sagt Lisa, und mein Blick trifft auf die junge Frau, die mir schon zu Beginn der Vorstellungsrunde aufgefallen war.
    Sie lächelt und nickt mir freundlich zu.
    »Astrophysik, richtig?«, fragt sie - und ich bin für einen Moment überrascht. Nicht nur, weil sie recht hat, sondern weil sie es mit einer solchen Selbstverständlichkeit sagt,
    als stünde es in leuchtenden Buchstaben auf meiner Stirn.
    »Ja, genau. Du auch?«
    »Mhm«, bestätigt sie. »Sieht ganz so aus, als würden wir im selben Boot sitzen.«
    »Oder auf demselben Planeten«, erwidere ich und muss lachen. Der Witz ist flach, aber sie lacht mit – und das reicht.
    Es fühlt sich seltsam beruhigend an, jemanden zu treffen, der denselben Weg gewählt hat.
    »Dann laufen wir uns bestimmt öfter über den Weg«, sage ich.
    Emily lächelt. »Das hoffe ich.«
    »Setz dich«, sagt Lisa und deutet auf einen freien Stuhl am Tisch. »Ich hab doch gesagt, hier gibt’s interessante Leute.«
    Ich zögere nur kurz, dann folge ich ihrer Einladung und lasse meinen Blick noch einmal über die Gruppe schweifen. Vielleicht ist das hier wirklich der Anfang von etwas Neuem.
    Vielleicht beginnt hier meine Geschichte. Ob ich darin der Held sein werde – oder eher der Typ, der in den ersten fünf Minuten draufgeht – das steht noch aus.
    Meine Entscheidung, Astrophysik auf dem Mars zu studieren, war kein Ergebnis jahrelanger Leidenschaft oder eines ausgeklügelten Plans. Es war ein Impuls.
    Ein Bauchgefühl, dem ich gefolgt bin.
    Tatsächlich war der eigentliche Auslöser ein dringendes Bedürfnis, etwas Grundlegendes in meinem Leben zu verändern - und ein Werbeplakat an meiner Schule.
    Astrophysik auf dem Mars stand da. Für mich klang das wie der größtmögliche Neuanfang, den ich mir vorstellen konnte.
    Ich erzähle Lisas Freunden von meiner Reise hierher. Die Geschichten über Mertens‘ Eskapaden bringen alle zum Lachen.
    Mark wischt sich die Tränen aus den Augen, Emily klatscht begeistert in die Hände und selbst Dr. Williams legt für einen Moment sein DataPad beiseite und schenkt mir ein amüsiertes Schmunzeln.
    Es fühlt sich ungewohnt an, im Mittelpunkt zu stehen. Ungewohnt – aber nicht unangenehm. Eine wohlige Wärme breitet sich in mir aus. Nicht nur, weil sie lachen, sondern weil sie meinetwegen lachen.
    Weil ich etwas teile, das ankommt. Zum ersten Mal seit Langem habe ich nicht das Gefühl, der »Shade« von der Erde zu sein – der Schattenmann, der sich am Rand hält, der immer unsichtbar bleibt.
    Hier könnte ich jemand Neues sein. Hier könnte ich Shade, der Superheld sein.
    Doch die Ketten der Vergangenheit sind schwer. Ein leiser Stich durchfährt mein Herz, als meine Gedanken für einen Moment in jene dunklen Zeiten auf der Erde abdriften – dorthin,
    wo ich nie wirklich irgendwo dazugehört habe. Meine Kindheit war eine lange Abfolge von Momenten der Einsamkeit. Das Verhältnis zu meinen Großeltern, bei denen ich aufwuchs, war von kühler Distanz geprägt.
    Sie bemühten sich, mir Liebe und Geborgenheit zu geben, aber ich konnte diese Nähe nicht zulassen. Etwas in mir sperrte sich dagegen.
    Mein Leben war überschattet von einem einzigen Gedanken - einem Warum das alles andere dominierte.
    Ich zog mich zurück, versteckte mich hinter meinem eigenen Schatten. Ein einsamer Wanderer auf einem Planeten voller Menschen. Die Erde fühlte sich leer an, bedeutungslos.
    Nichts konnte diesen einen Gedanken aus meinem Kopf verdrängen.
    Ein sanfter Stupser reißt mich zurück in die Gegenwart.
    »Alles Okay bei dir?« Marks Blick ist besorgt. »Du warst kurz total abwesend.«
    Ich zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und nicke. »Ja, alles gut«, murmle ich. »Ich war nur gerade in Gedanken.«
    Doch während ich das sage, wird mir bewusst, wie viel ich bereits von mir preisgegeben habe. Für die anderen waren es vermutlich nur belanglose Worte – kleine Anekdoten,
    ein paar Lacher. Aber für mich fühlt es sich an wie mehr. Wie der erste Schritt aus dem Schatten.
    Mark lehnt sich entspannt zurück und schenkt mir ein verständnisvolles Lächeln. »Ja, das kenne ich gut. Am Anfang prasselt alles gleichzeitig auf einen ein – so viele neue Eindrücke,
    dass man sich fast überwältigt fühlt. Als ich vor sechs Monaten hier ankam, ging es mir genauso. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran, dass hier alles anders läuft als auf dem guten alten blauen Planeten.«
    Ich nicke zustimmend und versuche, wieder ins Gespräch zu finden. »Erzähl mir mehr von dir, Mark. Du studierst Geologie, richtig?«
    »Genau. Schon als Kind fand ich Steine faszinierend. Während die anderen auf dem Fußballplatz herumrannten, war ich im Steinbruch und habe Gesteinsschichten analysiert«, sagt er und schmunzelt.
    Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Wenn ich an Geologen denke, stelle ich mir immer introvertierte, graubärtige Typen vor, die in abgelegenen Höhlen vor sich hin graben.«
    Mark grinst breit. »Tja, dann sieh mich als den Indiana Jones der Geologie.«
    Ich ziehe eine Augenbraue hoch »Indiana Jones? Du meinst diese uralten Filme über den Schatzsucher mit der Peitsche?«
    »Genau«, bestätigt er und ahmt eine Peitschenbewegung nach. »Okay, vielleicht bin ich nicht ganz so cool wie Indy, aber Geologen entdecken auch verborgene Schätze – nur eben in Form von Gestein.
    Und auf dem Mars gibt’s davon reichlich.«
    Bevor ich antworten kann, tritt Lisa zwischen uns. »Ihr versteht euch ja prächtig«, sagt sie schmunzelnd. »Ich unterbreche euer Gespräch nur ungern,
    aber ich wollte Emily die anderen Gemeinschaftsräume zeigen. Vielleicht willst du mitkommen, Shade?«
    Ich zögere einen Moment, bevor ich nickend zustimme. »Warum nicht? Wir quatschen später weiter, wenn das für dich okay ist, Mark?«
    »Klar, kein Stress«, antwortet er und erhebt sich leicht, um sich zu verabschieden. »Bis später dann. Ich würde auch lieber mit zwei netten Damen das Wohnheim erkunden,
    als mir langweilige Geschichten über Marsgesteine anhören zu müssen«, sagt er mit einem Augenzwinkern.
    Ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen und folge Lisa und Emily - ungewohnt gut gelaunt - aus der Lounge.

  15. #15
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    THERAPIE

    Ich wusste nicht, was schlimmer war – die Hilflosigkeit, oder die Aussicht darauf, dass sie verschwinden würde.
    Mein Körper war ein Fremder. Ein widerspenstiges, zitterndes Ding, das mir einfach nicht gehorchen wollte. Und doch erwartete sie, dass ich es benutzte.
    »Langsam« sagte die Physiotherapeutin. »Nicht erzwingen.«
    Leicht gesagt. Meine Beine fühlten sich an, als hätte jemand sie mit Blei gefüllt. Meine Muskeln brannten schon nach den ersten leichten Bewegungen.
    Ich saß auf der Bettkante, die Füße auf dem Boden, das Gewicht vorsichtig verlagernd. Es war ein absurder Kampf – ein Erwachsener, der versuchte, stehen zu lernen.
    Der Boden war kalt. Das war das Einzige, das sich eindeutig anfühlte.
    »Ihr Kreislauf muss sich erst wieder an die Belastung gewöhnen«, erklärte sie. »Wenn Ihnen schwindlig wird, lehnen Sie sich zurück.«
    Ich spannte die Muskeln an, verlagerte das Gewicht ein wenig nach vorne und stellte mich langsam auf meine Beine. Ich erwartete, dass sie jeden Moment nachgaben, aber sie hielten.
    Zumindest für den Moment.
    »Gut so«, sagte sie. »Jetzt versuchen Sie, die Balance zu halten.«
    Balance. Ein einfaches Wort für etwas, das sich unmöglich anfühlte.
    Ich atmete flach, konzentrierte mich auf meine Füße, die Beine, den Rücken. Alles in mir wollte sich dagegen wehren, als würde mein Körper selbst nicht glauben, dass das hier möglich war.
    Mein Kopf dröhnte, mein Rücken war schweißnass. Aber ich hielt mich aufrecht.
    Zumindest für ein paar Sekunden.
    Dann gaben meine Beine nach.
    Doch ich fiel nicht. Die Therapeutin griff mir blitzschnell unter die Arme und stabilisierte mich.
    »Nicht schlimm«, meinte sie. »Fürs erste Mal was das sehr gut.«
    Gut. Es fühlte sich nicht gut an, aber es war ein Anfang
    Die Tage verstrichen in einem zähen Rhythmus aus Übungen, Untersuchungen und Warten. Mein Körper gehorchte mir nur widerwillig, aber er lernte – langsam, mühsam.
    Stehen, ohne sofort einzuknicken. Einen Schritt machen, dann zwei. Jeder einzelne kostete mich mehr Kraft, als ich je für möglich gehalten hätte.
    »Ihr Fortschritt ist gut«, sagte die Therapeutin. »Der Körper erinnert sich, auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt.«
    Der Körper erinnert sich.
    Mein Kopf tat es nicht.

  16. #16
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    BLUMENMEER

    Lisa, schätzungsweise Ende Zwanzig, verließ ihre Heimatstadt Madrid vor
    fünf Jahren, um hier auf dem Mars Exobiologie zu studieren. Ihre
    Begeisterung für das Thema ist beinahe ansteckend. Während wir den
    Korridor entlanggehen, erzählt sie uns mit leuchtenden Augen von der
    Anpassungsfähigkeit bestimmter Mikroorganismen an die extremen
    Bedingungen der Marsoberfläche. Hin und wieder schleichen sich spanische
    Wörter in ihre Sätze, wie kleine, warme Erinnerungen an ihre irdischen
    Wurzeln.

    Lisa hat diese natürliche Freundlichkeit, die es leicht macht, sich in ihrer
    Gegenwart wohlzufühlen. Ihre Art, mit Menschen zu interagieren – offen,
    aufmerksam, zugewandt – lässt keinen Zweifel daran, dass sie hier so etwas
    wie ein sozialer Knotenpunkt ist. Fünf Jahre Erfahrung mit dem Leben auf
    dem Mars machen sie zu einer wertvollen Anlaufstelle, besonders für
    Neulinge wie Emily und mich.

    Unser erster Halt ist das kleine Fitness Studio. Normalerweise würde ich
    einen Ort wie diesen meiden, aber die geringe Gravitation wird mich wohl
    bald eines Besseren belehren. Spätestens, wenn meine Muskeln auf die
    Hälfte ihrer ursprünglichen Masse geschrumpft sind, werde ich mich mit
    den Geräten anfreunden müssen. Noch immer sind meine Bewegungen
    wegen der Gravitation etwas unbeholfen – als hätte mein Körper vergessen,
    wie man das Gleichgewicht hält. Ein Wettrennen gegen Mertens würde ich
    im Moment wohl haushoch verlieren.

    Ich schiele zu Lisa hinüber. Ihr athletischer, durchtrainierter Körper lässt
    keinen Zweifel daran – sie ist hier Stammgast.

    Während sie Emily die Funktionen einiger Geräte erklärt, lasse ich meinen
    Blick durch den Raum schweifen. Auf den Laufbändern liefern sich ein paar
    Studenten ein Rennen, eingebettet in eine dreidimensionale Projektion der
    Marsoberfläche. Fasziniert beobachte ich das Geschehen. Für einen
    Moment meine ich fast, den aufgewirbelten Staub auf der Haut zu spüren.

    Als wir schließlich das Studio verlassen, erwartet mich die größte
    Überraschung des Tages hinter einer Tür mit der Aufschrift Garten.
    Der Anblick auf der anderen Seite trifft mich wie ein Schlag. Ich bleibe stehen.
    Unfähig, das Gesehene sofort zu begreifen. Vor uns breitet sich eine grüne
    Oase aus. Üppig, lebendig, voller Farben und Düfte. Ein Ort, der eigentlich
    nicht hierhergehört. Ein Ort, der wirkt, als hätte jemand ein Stück Erde in
    diese fremde Welt verpflanzt. Für einen Moment glaube ich, wieder zu
    Hause zu sein.

    Der Garten liegt auf dem Dach des 134. Stockwerks – ein geschlossener
    Ring aus üppiger Vegetation, der das 135. Stockwerk wie eine Insel in der
    Mitte umschließt. Darüber ragt der Turm weiter in den Höhe, Stockwerk um
    Stockwerk, bis sich die Spitze wie eine Nadel in den Himmel bohrt. Der
    Anblick ist spektakulär.

    Staunend blicke ich auf ein endlos wirkendes Meer aus zarten, purpurnen
    Blüten, die sich sanft im künstlichen Wind wiegen.

    »Woher kommt der Wind?«, frage ich neugierig.

    Lisa deutet nach oben, auf die gewaltigen Luftaustauscher, die in die
    Kuppelkonstruktion integriert sind.

    »Von dort oben«, erklärt sie. »Die Frischluft wird von hier aus in die ganze
    Kolonie verteilt – und überschüssiges CO? gleichzeitig nach draußen geleitet.«

    Während ich fasziniert Lisas Erklärungen über die technischen Details
    lausche, bleibt mein Blick an einem dichten Strauch mit leuchtend
    orangefarbenen Beeren hängen, dessen sattgrüne Blätter das schwindende
    Marslicht auf faszinierende Weise reflektieren. Die Vielfalt in diesem Garten
    ist überwältigend. Ich erkenne kaum eine der Pflanzen wieder.

    Wir folgen Lisa tiefer hinein, einen verschlungenen Pfad entlang, der sich
    durch das dichte Grün windet. Auch Emily scheint von der Schönheit dieses
    Ortes gefangen – seit wir den Garten betreten haben, hat sie kein Wort
    gesagt. Stattdessen wandert ihr Blick staunend von Pflanze zu Pflanze, als
    wolle sie jedes Detail in sich aufsaugen.

    Mir geht es genauso. Ich will nichts vergessen. Kein Blatt, keinen Duft,
    keinen Lichtreflex. Neben einem Holunderbusch entdecke ich eine Staude
    mit riesigen, roten Blättern. Sie wirkt, als wolle sie sich mit aller Kraft von
    ihrer Umgebung abheben – als müsste sie gesehen werden.

    In regelmäßigen Abständen ranken sich seltsame Bäume in die Höhe,
    deren Nadeln in einem hellen Blau schimmern. Mit Einbruch der Dunkelheit
    beginnen sie zu fluoreszieren – ein leises Leuchten, das sich wie ein Schleier
    über die Umgebung legt. Die verzweigten Äste formen ein lebendiges Dach,
    hoch über unseren Köpfen. Tagsüber muss es hier angenehm schattig sein.
    Ich trete näher. Zwischen den Nadeln entdecke ich kleine, gläserne Blüten,
    in denen sich das letzte Licht des Tages bricht. Neugierig berühre ich eines
    der zarten Gebilde – und bin überrascht, wie fest sich die Blüte anfühlt.
    Nicht zerbrechlich, wie erwartet. Sondern widerstandsfähig. Fast trotzig.

    Etwas abseits des Weges fällt mir eine einzelne Blume ins Auge. Sie ist
    wunderschön. Ihre seidigen Blütenblätter schimmern in einem tiefen,
    verführerischen Lila, durchzogen von feinen silbernen Linien, die ein
    kompliziertes Muster bilden. Sie scheint nicht von dieser Welt zu sein –
    fremdartig, unnahbar. Und doch zieht sie mich an – auf eine Weise, die mein
    rationales Denken überlagert.

    Ein seltsamer Drang überkommt mich. Als könnte diese Pflanze all das von
    mir nehmen, was auf mir lastet. Als würde eine Berührung genügen, um neu
    zu beginnen – frei von den Schatten, die mich verfolgen.

    Meine Atmung wird flach. Ich strecke die Hand aus. Die Farben pulsieren vor
    meinen Augen, ihr Duft – süß, aber mit etwas Unbestimmtem – zieht mich
    tiefer in ihren Bann. Es ist, als hätte sie ein eigenes Bewusstsein. Als würde
    sie mir zuflüstern, dass alles anders werden kann, wenn ich sie nur berühre.

    Doch kurz bevor meine Finger die seidigen Blütenblätter erreichen, packt
    mich eine Hand grob am Arm und reißt mich zurück.

    »¡Ay, Dios mío! ¡Stopp, Shade! ¡No toques eso! Nicht anfassen!« Lisas
    Stimme ist scharf, durchdringend.

    Ihre Augen sind geweitet, ihr Griff fest – beinahe schmerzhaft.

    Die Leichtigkeit, die sie sonst ausstrahlt, ist verschwunden.

    »Warum?«, frage ich benommen, noch immer gefangen von der
    unwiderstehlichen Schönheit dieser Pflanze. Langsam lichtet sich der Nebel
    in meinem Geist. Stück für Stück kehrt die Realität zurück.

    »Diese Blume…«, beginnt Lisa ernst, »ist keine gewöhnliche Pflanze. Ihr
    Toxin ist extrem gefährlich. Schon der geringste Hautkontakt reicht aus,
    damit das Gift in deinen Kreislauf gelangt. Es wandert direkt ins Gehirn –
    und verursacht einen Rausch, der dich für Tage die Kontrolle verlieren lässt.«

    Verblüfft frage ich: »Wie kann es sein, dass eine so gefährliche Pflanze hier
    frei im Garten wächst?«

    Lisa lacht kurz auf: »Das ist nur eine der vielen Besonderheiten dieses
    Gartens. Heute dient er vor allem der Entspannung, aber ursprünglich war
    er ein Experimentierfeld. Die Universität hat hier Pflanzen genetisch
    verändert, um sie an die Bedingungen des Mars anzupassen. Manche haben
    dabei Eigenschaften entwickelt, mit denen niemand gerechnet hat.«

    Sie deutet auf die Blume. »Diese hier wird offiziell noch für Studien über
    Halluzinogene verwendet. Inoffiziell nutzen manche sie, um sich regelmäßig
    gewaltig zuzudröhnen. Wenn du also nicht gerade auf der Suche nach einem
    besonderen Mars-Trip bist – lieber Abstand halten.«

    Ich weiche eilig einen Schritt zurück – vielleicht auch zwei. Die Vorstellung,
    meinen Verstand an eine Blume zu verlieren, jagt mir einen kalten Schauer
    über den Rücken.

    »Danke für die Rettung«, murmle ich dankbar. »Nicht unbedingt die Art
    von Begrüßung, die ich mir für meinen ersten Tag vorgestellt habe.«

    Lisa lächelt und zeigt auf eine andere Pflanzengruppe in unserer Nähe.

    »Sieh dir die dort an - unsere Mars-Wunderpflanzen. Genetisch modifiziert,
    damit sie in den kargen Böden des Mars gedeihen. Sie helfen bei der
    Sauerstoffproduktion und filtern gleichzeitig Schadstoffe aus der Luft. Eines
    Tages könnten sie sogar beim Terraforming helfen. Aber das ist noch längst
    nicht alles.«

    Während wir weiter durch den Garten spazieren, erklärt Lisa, wie die
    Vielfalt der Pflanzen hier nicht nur der Umweltkontrolle dient, sondern auch
    dem Überleben auf dem Mars. Manche eignen sich als Nahrungsquelle,
    andere liefern wichtige Rohstoffe, und einige werden medizinisch genutzt.
    Neue Pflanzen werden zunächst in experimentellen Gärten wie diesem
    angebaut – erst später, wenn sie sich bewährt haben, in größeren Mengen
    in den Gewächshäusern außerhalb der Kolonien gezüchtet. Jede Pflanze
    hier scheint ihre eigene Geschichte zu erzählen.

    Emily, die bisher kaum ein Wort gesagt hat, stößt plötzlich ein leises
    Lachen aus. »Das ist alles so surreal hier. Ich kann’s kaum fassen«, sagt sie,
    legt den Kopf in den Nacken und blickt zu den schimmernden Blättern über
    uns. »Aber irgendwie auch faszinierend.«

    Sie ist Anfang zwanzig, trägt schulterlanges, glattes, hellbraunes Haar und
    eine Brille, die ihren leicht verträumten Blick noch unterstreicht. Während
    wir durch den Garten schlendern, fällt mein Blick immer wieder auf ihren
    linken Arm. der fast komplett von einem einzigartigen Tattoo bedeckt ist -
    eine stilisierte Rüstung, durchzogen von einem tiefen Riss. Dahinter
    schimmert ein fein schattiertes, anatomisches Herz, so detailreich, dass es
    fast lebendig wirkt. Das Bild ist wie ein Widerspruch in sich: Stärke und
    Verletzlichkeit, Schutz und Offenheit, vereint in einem einzigen Motiv. Für
    einen Moment frage ich mich, welche Geschichte wohl dahintersteckt.

    Emily stammt aus Seattle. Ihre Leidenschaft für Astrophysik hat sie von
    ihrem Großvater geerbt. Die beiden waren oft in den Bergen unterwegs,
    haben dort gemeinsam die Sterne beobachtet. Ihre Faszination für den
    Kosmos begann genau dort – unter freiem Himmel, fernab der Stadtlichter.

    Unsere Unterhaltung verstummt, als wir das Ende des Pfades erreichen.
    Vor uns: ein hüfthohes Geländer am Rand des Gartens. Dahinter öffnet sich
    der Blick auf Elysium Prime. Die Aussicht ist dramatisch. Die untergehende
    Sonne taucht die Stadt in ein flirrendes Farbenspiel. Jenseits der Kuppel
    zeichnen sich die schwarzen Silhouetten der endlosen, rauen Marswüste
    gegen den orangen Himmel ab. In der Ferne steigt ein heller Punkt in den
    Himmel. Ist das die Fähre, mit der ich heute angekommen bin? Der winzige
    Lichtpunkt verschwindet bald am Horizont, doch sein Bild brennt sich in
    meinem Gedächtnis ein.

    Langsam spüre ich die Erschöpfung. Zu viele Eindrücke für einen einzigen
    Tag. Zeit, schlafen zu gehen.

    Mit einem Grinsen verabschiede ich mich von Emily und Lisa. »Vielleicht
    schaue ich noch bei unserer blumigen Freundin vorbei - nur, um Hallo zu
    sagen, versteht sich.«

    Emily lacht, Lisa wirft mir einen amüsierten Blick zu.

    Dann mache ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer im 132. Stock –
    bereit für meine erste Nacht in dieser neuen Welt.
    Geändert von PhoneBone (Heute um 13:37 Uhr)

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