Ich steh an deinem Grab in Deutschland, nach zwanzig Jahren. Wir hatten damals viele Tage zusammen in New York verbracht. Ich erinnere mich daran, dass du gerne die Regentropfen beobachtet hast an einem der Fensterscheiben deines Appartements, kleine Perlen, die sich ihre eigenen Wege bahnten und mäanderten. Manche schafften es nicht weit. Die Morgensonne verzehrte sie. Du sagtest einmal: „Sie verdampfen wie auch wir eines Tages von unserem geronnenen Aggregatzustand in einen diffusen geistigen übergehen werden.“ Ein paar Tage später hattest du dir das Leben genommen. Ich war damals verzweifelt, war zornig auf dich, weil ich mit dir zum ersten Mal einen Menschen liebgewonnen hatte, ohne dessen Nähe ich mich einsam fühlte. So war ich oft bei dir. Andere Freunde vermittelten mir nur ein Gefühl nicht allein zu sein. Sie konnten dich nicht ersetzen. Du warst wie ein Teil von mir. Wir waren zwar jeder für sich Platzhirsch-Charaktere, verkapselte Egoismen. Aber wir hatten poetische Züge und Empfindungen fürs Künstlerische an uns entdeckt, Neigungen, die uns zuweilen in Einklang stimmten. Du erschienst nach außen stark. Ich wusste, du hattest dich eingeigelt, um deine empfindliche Seite zu schützen, indem du die andere stachelig zeigtest zur Abwehr. Du warst längst vor unserer gemeinsamen Zeit zerbrochen, gescheitert an dir selber, an deine hohen Erwartungen. Dein Glaube an das Gute deiner Mitmenschen konnte dich zu leicht erschüttern. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, hatte ich dich zuletzt viel allein gelassen, weil ich mich mit Edna traf. Jedoch glaube ich, deine Gründe zum Freitod lagen viel tiefer, gehen weit zurück in eine unglückliche Kindheit.
Ich trauere um die Zeit mit dir, die wir hätten gemeinsam verbringen können. Du hattest dich immer schon für Poesie interessiert, hattest Gedichte geschrieben. Ich konnte mich nie wirklich dafür erwärmen. Du starbst 1993. Da hatten wir noch kein PC und Internet. Ich denke oft, wie schön es wäre, lebtest du noch. Du hättest viel Lebensfreude schöpfen können mit deinen Gedichten, mit den Möglichkeiten von Präsentation und Auseinandersetzung in dem genannten Medium. Vielleicht hätte es auch mich mitgezogen im Sog deiner Begeisterung. Vielleicht, bestimmt… Vielleicht, bestimmt… ist aber so, als würde man um ein amputiertes Bein trauern, und sich immer wieder fragen, was, wenn ich es noch hätte.