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Thema: Comic-Stammtisch: Tim und Struppi

  1. #76
    Verstorben Avatar von hipgnosis
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    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Hergé hat wohl doch nicht (nur) bei Bécassine abgeguckt ?
    Dann schau Dir mal den Bären auf dieser Seite an - ganz so von der Hand zuweisen wäre Deine These wohl nicht!

    http://www.benjaminrabier.com//Deskt...aspx?tabid=195

  2. #77
    Verstorben Avatar von hipgnosis
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    @matbs, Josias usw.

    Ich will auch hier um Gottes Willen keinen Geschmacksstreit auslösen, bzw, meine Aussagen nicht missverstanden wissen.

    In der Regel spiegeln Aussehen zu Zeichnungen und Story auch rein meine persönliche Vorliebe wieder.
    In Posting #14 erwähnte ich ja schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, daß wohl einige Probleme generell mit der Ligne claire haben dürften.

    Generell zähle ich mich nur teilweise zu dieser Gruppe, obwohl zugegebenermaßen diese Stilrichtung nicht mein Favourit ist und auch nie werden wird.
    Dennoch gefallen mir einige Zeichnungen verschiedener Künstler - auch einige Panels von Hergé finde ich klasse.

    Und ganz ehrlich, dabei ist es für mich völlig irrelevant, ob jemand einen Stil geprägt hat oder nicht. Es gab auch in der malenden Kunst sicherlich genügend Beispiele, wo Künstler irgendeiner Stilrichtung, die Fähigkeiten des "Erfinders" oder des "Meisters" wie Du es so schön ausdrückst, bei weitem übertroffen haben!

    Rein subjektiv halte ich Hergé für einen besseren Geschichtenerzähler, als begnadeten Zeichner.

    Dennoch attestiere ich Ihm gerne, daß sein Stil sehr gut zu den von Ihm gezeichneten Geschichten passt.
    Da ich es persönlich etwas realistischer, oder besser detaillierter mag, bin ich nicht der Riesenfan von Ihm. Und bessere + vor allem spannendere Abenteuerstories habe ich halt auch schon gelesen.
    Nostalgisch gesehen, darf aber Tim + Struppi natürlich in keiner Comicsammlung fehlen - und einen hohen Unterhaltungswert kann ich diesen Geschichten auch heute noch abgewinnen!

    Ich hoffe das war jetzt diplomatisch genug ausgedrückt!

    Wenn ich jetzt unsere Schlußfazit´s tippen müsste - würde ich mich wahrscheinlich in etwa bei @felix einpegeln, mit einer Tendenz zu @kaschi

  3. #78
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    Original geschrieben von hipgnosis:
    Dann schau Dir mal den Bären auf dieser Seite an - ganz so von der Hand zuweisen wäre Deine These wohl nicht!

    http://www.benjaminrabier.com//Deskt...aspx?tabid=195
    Wenn Du die ersten beiden Bilder mit der Aussage von Matbs
    Faszinierend. Das fehlende Bindeglied zwischen Tim und Wilhelm Buschs Moritz!

    (Zumindest was die Frisur angeht )
    abgleichst, wird die Bindeglied-Theorie doch gleich noch wahrscheinlicher (nicht nur in Bezug auf Frisur): M & M sind auch in den Teig gefallen.

  4. #79
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    Zitat Zitat von hipgnosis Beitrag anzeigen
    Da du es gerade ansprichst - eine kleine Frage.

    Würde sich der Kauf dieses Werkes noch lohnen, der wie ich Besitzer der Hergé Gesamtausgabe bin?
    Oder wären dort ziemlich viele Informationen redundant?
    Ja, das Buch lohnt auf jeden Fall die Anschaffung, denn die Informationen der deutschen Hergé Werkausgabe stammen aus den späten 1980er Jahren (aus der niederländischen Lekturama-Ausgabe), und sind somit in vielen Fällen überholt bzw. aufgearbeitet worden. Carlsen hatte seinerzeit leider keine andere Wahl, als genau diese Ausgabe als Vorlage zu verwenden, da die Fondation Hergé darauf bestand. Und unter der Leitung von Joachim Kaps wurde dann versucht, Schadenbegrenzung zu betreiben und den Kommentaren in einigen Fällen weitere Infos (z.B. über deutsche Publikationen etc.) hinzuzufügen.

    Eigentlich ist die Liste der "wichtigen" Sekundärliteratur zu Hergé recht überschaubar (siehe unten).

    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Hatte schon fast befürchtet, ich hätte falsch getippt: Aber Don Alfonso hat sich ja nun doch zu einem statement an diesem Stammtisch gemeldet. Bin wohl doch 'n kleiner Prophet.
    ??? Wo konnte man denn darüber abstimmen? Und warum sollte ich mich "nun doch" am Stammtisch beteilligen? Leider fehlte mir in den letzten Wochen die Zeit, um ausführlicher dabei zu sein...

    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Vielleicht kann ich selbst dem ausgesprochenen Tim-Kenner im Folgenden eine kleine (oder sogar große) Überraschung bereiten.
    Also ich bin kein Tintinologe, aber wissen denn die Spezialisten dieser Serie von einem Tim derartig ähnlichem Vorläufer, der zu allem Überfluss in einem Album des Titels Tintin lutin erschien?
    Obwohl ich über einige Sekundärliteratur zum Thema verfüge, habe ich davon noch nichts gelesen, geschweige denn die Figur gesehen ...
    Ist das nur eine ganz individuelle Bildungslücke (wenn ja, wo stand etwas von ihr, ich bin ja so verwirrt !) oder muss die Tim-Geschichte jetzt neu geschrieben werden ???
    Nein, das hat bereits Huib van Opstal in seinem vorzüglichen Buch "Essay RG" beschrieben. Dieses 1994 erschienene Werk gehört übrigens zu den wenigen Büchern über Hergé, das man haben muss. Egal, ob man Tim und Struppi oder Comics generell gut findet oder nicht. Denn es zeigt, wie gut und spannend man (Comic-)Historie aufarbeiten kann. Hier mal meine persönliche Liste mit Lieblingsbüchern über Hergé und sein Werk:

    Le monde d´Hergé (Hergé - Ein Leben für die Comics)
    Tintin et moi - Entretiens avec Hergé
    Les heritiers d’Hergé
    L´Univers d´Hergé Tome 1 – 7
    Hergé et Tintin Reporters
    Hergé, portrait biographique
    Tout Hergé - Itinéraire d’un collectionneur chanceux
    Essay RG; Het fenomeen Hergé
    Hergé - Chronologie d´un Œuvre Tome 1-5
    Tintin - The Complete Companion

  5. #80
    Mitglied Avatar von Matbs
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    Zitat Zitat von Kaschi Beitrag anzeigen
    Nur was ist, wenn man sich mit der Ligne Claire als solcher nicht sonderlich anfreunden kann? Dann hilft da auch noch so große Kunstfertigkeit nicht recht weiter. So geht's mir.


    Und das ist ja auch völlig legitim, da hatten wir uns ja schon drauf geeinigt . Deswegen habe ich meine Aussage in Post #71 bewusst allein auf mich bezogen, und versucht, keinen Allgemeingültigkeitsanspruch aufkommen zu lassen.

    Zitat Zitat von Kaschi Beitrag anzeigen
    Übrigens: ob "École Marcinelle" als Gegenbegriff zur "Ligne Claire" taugt, ist durchaus fragwürdig.
    Für meine begrenzten Zwecke taugt das ganz gut, denn du hast ja verstanden, was ich ausdrücken wollte .



    So. Bisher keine größere Ablenkung in Sicht, das werde ich doch gleich mal nutzen, um ein bisschen was über die "Kristallkugeln" und den "Sonnentempel" loszuwerden: Grundsätzlich glaube ich, dass man die Geschichte in vier grobe Teile, mit jeweils einem etwas anderen erzählerischen Fokus, einteilen kann:

    1) Das Set-up/Die Mystery-Geschichte. Reicht m.M.n. vom Anfang bis einschließlich zur Nacht in Birnbaums Haus.
    Wie bereits von anderer Seite erwähnt, lässt sich Hergé hier viel Zeit, was ihm die Möglichkeit gibt, einen Alltag zu zeigen, der zumindest ein bisschen näher an der Lebenswirklichkeit seiner Leserschaft ist, und seine Protagonisten somit etwas "menschlicher" und eigentständiger erscheinen zu lassen (eigenständiger deshalb, weil hier Tim und Haddock nicht als untrennbar verschweisste Einheit präsentiert werden, die sie in einem Abenteuerplot zwangsläufig bilden müssten, sondern eher so etwas wie gute Bekannte sind, die sich länger nicht gesehen haben - somit ist ihre Begegnung nach einiger Zeit am Anfang der "Kristallkugeln" natürlich auch ein exzellentes Vehikel um den Leser "up to date" zu bringen, indem er, zeitgleich mit Tim, erstmals mit den großbürgerlichen Anwandlungen des Kapitäns konfrontiert wird). Der erzählerische Schwerpunkt liegt in diesem Teil der Geschichte zuerst einmal nicht auf der Präsentation eines atemlosen, stringent gestaffelten und straff erzählten Abenteuers, sondern auf einer inhaltlich wesentlich freieren Interaktion zwischen den Charakteren, die ja auch bestens funktioniert (zumindest für mein Empfinden, und wohl auch für das Hergés, da er sich in späteren Geschichten ja immer häufiger einer solchen offeneren Erzählweise bedient, kulminierend in den brillianten [ha, kleines dummes Wortspiel] "Juwelen der Sängerin").
    Natürlich hat er das Abenteuer schon fest im Blick - auf wirklich klassische, fast lehrbuchhafte Weise betreibt er bereits in den ersten Panels ein ziemlich gekonntes (weil eigentlich recht unaufdringliches) Foreshadowing, und auch die Szene mit der Wahrsagerin und das Treffen mit Alcazar dienen der langfristigen Weichenstellung für den weiteren Plot, ohne dass das für den Leser zu gehetzt oder offensichtlich wirkt.
    Als sich dann aus diesen Anfängen so langsam etwas Abenteuerliches manifestiert, ist es zuerst zutiefst mysteriös. Zwar wird recht schnell ein Muster erkennbar, doch warum, oder auch nur wie, diese Ereignisse passieren bleibt sowohl dem Leser als auch den Charakteren vorerst verborgen, was meines Erachtens für eine großartige Grundstimmung sorgt. Im eigentlichen Abenteuer drin sind wir damit aber noch lange nicht, denn die Protagonisten selbst sind, ohne ein klares Ziel, vergleichsweise passiv und lernen erst langsam mehr über die Situation. Es gibt keinen fassbaren Gegner, entsprechend können sie auch nicht gegen ihn vorgehen - in diesem ersten Teil der Geschichte sind sie eigentlich nur Zuschauer, die fast nur reagieren, aber kaum agieren: Egal was sie tun, sie sind immer einen Schritt zu spät, kriegen niemals einen Verantwortlichen zu fassen oder auch nur andeutungsweise zu sehen.
    Sollte man diesen Teil der Geschichte in ein Genre einordnen, so würde ich sie am ehesten als das bezeichnen, was man neudeutsch ein "Mystery"-Plot nennen könnte. Die Charaktere sind nicht Herren der Situation, sie wissen nicht einmal genau, was die Situation ist (was sie natürlich nicht von dem Versuch abhält, etwas zu tun) - sie sehen sich mit einer Macht konfrontiert, die fast völlig unpersönlich und gesichtslos dargestellt wird (den einzigen "Antagonisten", den wir in Verbindung mit ihr zu sehen kriegen, ist die Mumie des Rascar Capac, die lediglich im Traum als aktiver Charakter auftritt und somit natürlich jenseits der Reichweite der Protagonisten ist - creepy), und die entsprechend nicht bekämpft werden kann, weil sie kein Ziel bietet (merke: Wie auch bei LL sind Konflikte bei T&S in den meisten Fällen personalisiert, da die Geschichten meist weitgehend darauf verzichten, einen klar definierten übergeordneten gesellschaftlichen Kontext zu präsentieren, auf dem weiterreichende Konflikte angesiedelt werden könnten. Entsprechend sind Konflikte eher sind zwischen handelnden Personen, nicht zwischen Personen und gesichtlosen Mächten - wenn so eine Macht auftritt, kriegt sie i.d.R. auch gleich einen oder mehrere "Gesichter", die für sie arbeiten oder sie leiten, und mit denen sich die Helden auseinandersetzen müssen. Sind sie erfolgreich, ist nicht nur der spezifische Gegner, sondern auch die gegnerische Macht zumindest vorerst überwunden, zumindest bis sie einen neuen/wiedererstandenen alten Antagonisten findet, durch den sie dann wieder manifest wird - allerdings wird über dieses Schema im Zusammenhang mit der Darstellung der Inkas im zweiten Teil noch zu reden sein).
    Die Verwendung übernatürlicher Elemente in diesem Teil der Geschichte finde ich dann auch im Gegensatz zu felix sehr gelungen, denn sie passen wunderbar in die Grundstimmung und betonen noch einmal die Hilflosigkeit und Ratlosigkeit, die die Charaktere angesichts einer völlig unbekannten Macht an den Tag legen müssen - hier haben wir es mit einer seltsamen Kraft zu tun, die nicht zuletzt deshalb so mysteriös und vielleicht auch so ein bisschen gruselig ist, weil wir weder die Funktion noch das Ausmass, noch den Ursprung ihrer Fähigkeiten kennen.
    Gerade für Tim, der, wie wir ja wie wir schon festgestellt haben, sehr stark ein rationaler Charakter ist, sind kryptische Prophezeiungen, alte Flüche, und seltsame Träume ja eigentlich etwas zutiefst Fremdes, auf das er aus seiner Ratio heraus keine Antwort weiss, ausser vielleicht "Alles Tricks" - aber gerade diesen Weg geht Hergé ja ganz bewusst nicht (keine verrückten Wissenschaftler oder semigenialen Verbrecher mit einem diabolischen Masterplan) Stattdessen entschliesst er sich konsequent zu einer mystischen Erklärung. Ich persönlich finde das sehr gut, denn einer der ganz großen Reize von Tims Kosmos für mich ist, dass er einerseits realistisch ist, andererseits aber auch auf der Grundidee des Unbekannten und Neuen fusst. T&S Lesen ist auch immer ein Stück weit Tims Welt entdecken, und in den vergessenen Ecken dieser Welt ist vieles möglich, da gibt es Ausserirdische, den Yeti, und sogar Zauberei. Natürlich spielt das Übernatürliche nicht immer eine Rolle (und das ist auch gut so), aber es erweitert das Konzept des Unbekannten, ohne das jedes Abenteuer nur halb so spannend wäre, um eine potentielle weitere, faszinierende Dimension.

    2) Die Kriminalgeschichte. Reicht von der Entführung Bienleins bis zum Ende der "Kristallkugeln", möglicherweise auch noch in den "Sonnentempel" bis zum Verschwinden Bienleins und seiner Entführer in den Anden.
    So, da wären wir also mitten in den "Kristallkugeln" und alles ist total spannend und mysteriös. Und was passiert als nächstes? Hergé hat ein Einsehen mit seinen hilflosen Helden, und vollführt eine rasante, aber (m.M.n) ziemlich gekonnte Kehrtwende vom Mystischen zum Mundanen. War das ganze bisher eine Mystery-Geschichte, in der der Fokus auf dem langsamen Entdecken (aber nicht Lösen) eines großen Geheimnisses lag, bringt Hergé das ganze jetzt ruck-zuck auf den Boden der Tatsachen zurück. Das Geheimnis um die schlafenden Forscher und die Kristallsplitter wird erstmal hintenangestellt (es wird weder vergessen noch gelöst, einfach erst mal suspendiert um was anderes zu erzählen), gleichzeitig werden personalisierte Gegner eingeführt, mit denen Tim und co. es aufnehmen können - zwar sehen wir diese Gegner erstmal nicht, aber sie sind offensichtlich zumindest mal menschlich, denn sie können bluten, schiessen, und Auto fahren - und damit bieten sie einen Ansatzpunkt mit dem die - bisher notgedrungen passiven - Charaktere die Sidelines verlassen und aktiv werden können.
    Interessant ist hierbei vor allem, wie schnell Hergé es schafft, die Grundstimmung seiner Geschichte zu ändern, ohne dass das (zumindest auf mich) störend oder gezwungen wirkt. Jetzt sind wir also mitten in einem ganz klassischen Krimi, in dem ein paar Verbrecher scheinbar etwas Unrechtes getan haben und nun mittels der Auswertung von Hinweisen verfolgt werden müssen. Zwar ist hier auch Einiges mysteriös, aber nicht mystisch, und da wir uns nun im Bereich des rein Rationalen bewegen, sind diese Mysterien auch bald aufgeklärt und es ergibt sich - bis zu einem bestimmten Punkt - ein klar verständliches, komplettes Bild.
    Allerdings gibt es auch hier keine direkte Konfrontation mit den gegnerischen Kräften Auch wenn sie nun in der Lage sind, zu handeln, reagieren Tim und der Kapitän doch eher noch auf Entwicklungen jenseits ihres direkten Einflussbereiches anstatt ganz autonom zu agieren. Auch dieser Teil der Geschichte hat - zumindest nach dem Feuergefecht mit den Entführern- eigentlich wenig "Action" aufzuweisen, zudem liegt der erzählerische Fokus nicht allein bei Tim und dem Kapitän, sondern wird mehrmals durch die Aktionen anderer Charaktere (nämlich der Polizisten) unterbrochen - entsprechend ist das hier eigentlich immer noch kein echtes "Abenteuer" im klassischen Sinne, darauf müssen wir immer noch warten. Stattdessen geht es auch hier um Geheimnis, das am Ende dieses Plot-Teils auch insofern gelöst ist, als keine Fragen zu ebendiesem Plot-Teil mehr offen bleiben: Man hat die Puzzleteile zusammengefügt, ist den Spuren bis ans Ende gefolgt, und hat den Fall ein Stück weit gelöst: Der Weg von Bienleins Entführern ist zumindest lückenlos nachvollzogen, ihre Motive bekannt. Doch damit ist die Kriminalgeschichte an ihrem Ende: Den Entführern ist es praktisch gelungen, sich ihr zu entziehen, denn sie haben Bienlein an einen Ort außerhalb der Zivilisation und der gesellschaftlichen Jurisdiktion gebracht,
    wo ihre eigenen Gesetze herrschen - und hier sind sie keine Gangster mehr. Da es da nichts mehr aufzuklären gibt, und sich der Kontext der Geschichte somit nochmals gewandelt hat, ist die Kriminalgeschichte hier zu ende, und es folgt der dritte und spektakulärste Teil der Handlung, die Abenteuergeschichte (Wobei der Übergang von der Kriminal- zur Abenteuergeschichte deutlich schleichender erfolgt ist, als der vorherige Übergang von der Mystery- zur Kriminalgeschichte).

    3) Die Abenteuergeschichte. Reicht vom Ende der "Kristallkugeln", alternativ vom endgültigen Verschwinden Bienleins in den Anden, bis Eintreffen im "Sonnentempel".
    Hier haben wir also einen erneuten Wechsel des Genres, und mit ihm auch wieder einen Wechsel der Rollen: Waren Tim und der Kapitän im ersten Teil der Geschichte vor allem Zuschauer, die wenig tun konnten, und im zweiten Teil vor allem Detektive, die sich indirekt über die „Hinterlassenschaften“ des abwesenden Gegners um das Erlangen von Informationen bemühten, so sind sie jetzt voll und ganz Abenteurer: Sie sind aktiver (und, bis auf die „Schul(t)ze-Interludes“, einziger) Fokus der Handlung, und sie suchen nicht länger nach Informationen oder Bienleins Kidnappern. Stattdessen ist das Ziel nun ganz klar, man muss es nur noch erreichen – anstatt dass die einzelnen erzählten Erlebnisse stimmungsschaffende Ereignisse außerhalb der Kontrolle der Charaktere sind (wie im ersten Teil), oder jeweils kleine, aber extrem wichtige Endpunkte einzelner kurzer Handlungs- und Informationsstränge, ohne die die Handlung nicht voranschreiten könnte (wie im zweiten Teil), sind sie jetzt nur noch einzelne Komplikationen eines großen Handlungsstranges, die den Metaplot eigentlich nicht länger direkt beeinflussen (das würden sie nur, wenn sie Tim und den Kapitän aufhielten, was sie ja nicht tun) -
    es geht nun ganz um das Erleben von Abenteuern, das Meistern manifester Gefahren, und die direkte Interaktion mit einer gefährlichen Umwelt, während die Rollen von „Helden“ und „Gegnern“ im Gesamtkontext der Geschichte scheinbar klar verteilt zu sein scheinen und Fragen bzw. Rätsel keine größere Rolle mehr spielen.
    Entsprechend der beschriebenen Veränderungen der Protagonistenrollen wandelt sich
    auch der –implizite oder explizite – Antagonist von Teil zu Teil. Im „Mystery-Plot“ war es die mysteriöse, nicht fassbare und damit auch nicht zu besiegende Macht. In der Kriminalgeschichte waren es die zu verfolgenden „Gangster“, die man – meist ohne direkte physische Gefahr oder direkten Kontakt – durchschauen und deuten musste (es war also eher ein „Battle of Wits“ anstatt eines physischen Kampfes). Und nun? Auf den ersten Blick könnte man vielleicht denken, dass die Inkas der neue Gegner sind, aber das stimmt m.M.n. bestenfalls zum Teil – zwar beenden sie effektiv die Kriminalgeschichte, indem sie plötzlich von „Gangstern“ zur schattenhaften Verschwörung hinter den Kulissen mutieren, aber gerade dadurch verschwinden sie auch wieder als aktiver Gegner, denn wie oben bereits festgestellt, kann ein direkter Konflikt zwischen den einzelnen Protagonisten und einer solchen Gruppe ohne Personalisierung nicht wirklich ausgetragen werden (und so einen direkt personalisierten Konflikt gibt es dann nur noch einmal, mit den Entführern Zorrinos in den Bergen) – Ansonsten können die Protagonisten bestenfalls ein Abenteuer erleben, wenn sie sich mit den Auswirkungen einzelner Aktionen der gegnerischen „Verschwörung“ auseinandersetzen, wie beispielsweise in der Szene mit dem abgekoppelten Waggon.
    Nein, der eigentliche Gegner, den es hier, wie in jeder anständigen „Abenteuer in der Wildnis“-Geschichte“ zu besiegen gilt, ist die Natur selbst, die Berge, das Klima und nicht zuletzt die Fauna. Entsprechend geradeheraus ist dieser Teil der Geschichte, er läuft im Großen und Ganzen nach dem verlässlichen Muster Reise-Problem-Lösung-Weiterreise ab, was ja auch bestens funktioniert, und weiterreichende Fragen erstmal ausblendet – jetzt ist „Action“ angesagt, es gibt keinen klar umrissenen „Gegner“, sondern nur mehr oder weniger isolierte Gefahren.
    Dieser Schachzug ist an sich sehr geschickt, denn damit verschiebt Hergé den Fokus seiner Erzählung endgültig von „Die guten Europäer gegen die schurkenhaften Inkas“ und bereitet damit eine Darstellungsweise der Inkas vor, die über eine bloße Rolle als bösartige und niederträchtige Wilde ohne weitere Motivation hinausgeht und damit den vierten Teil der Geschichte vorbereitet:

    4) Der interkulturelle Kontakt. Reicht vom Eindringen in den Sonnentempel bis zum Ende. Der letzte Teil der Geschichte beginnt mit einem echten Knall: Waren die Übergänge zwischen den vorherigen Teilen immer ein bisschen fließend, passiert hier alles ganz plötzlich: Eben tappten Tim, Zorrino und der Kapitän noch sprichwörtlich im Dunkeln, indem sie orientierungslos durch irgendwelche finsteren Höhlen kriechen, in denen die Kultur der Inkas nur als verrottendes Überbleibsel existiert, und auf einmal finden sie sich unvermittelt und überraschend mitten in dieser (äußerst lebendigen) Kultur wieder – dieser Übergang ist übrigens auch graphisch sehr beeindruckend umgesetzt: Seht euch mal den Übergang von S. 47 zu S. 48 (Albenausgabe) bzw. S. 134 zu 135 (Werkausgabe) an, das ist einfach ganz grossartig!
    Was ist dieser Teil der Geschichte? Ist es wieder ein Mystery-Plot? Nein, denn die Problemstellung ist inzwischen ja völlig klar, selbst wenn die Protagonisten erstmal hilflos sind. Kriminalgeschichte? Nein, natürlich nicht, hier gibt´s keine Hinweise und Clues, und die Helden finden sich selbst in der Rolle von „Gesetzesbrechern“ wieder. Klassisches Abenteuer? Nicht wirklich, denn die Charaktere sind nicht mehr unterwegs, anstatt vieler Gefahren auf dem Weg ist es nur noch eine große, und die lässt sich nicht so leicht abwenden. Also was dann? Ich hab´s mal mit „der interkulturelle Kontakt“ überschrieben, denn hier geht es ja in erster Linie um die Interaktion zwischen zwei verschiedenen Kulturen. Interessant ist dabei zuerst einmal, dass die Inkas eben kein einfacher Gegner mehr sind (denn sie erscheinen uns ja nun von ihren Motiven zumindest nicht ganz unverständlich, wenn auch immer noch ziemlich drakonisch). Entsprechend ist die Lösung auch nicht mehr in einer Auseinandersetzung angelegt, denn man kann die Inkas ja nicht mehr k.o. schlagen und fesseln und dann den Behörden übergeben. Der Lösungsweg, den Hergé letzten Endes wählt ist vielmehr so eine Art interkultureller Dialog: Tim lässt sich ein Stück weit auf die Denkweise der fremden Kultur ein, um mit Hilfe des Zeitungssausschnittes einen Lösungsweg zu finden, der den kulturellen Normen der Inkas entspricht. Sicherlich könnte man zurecht einwenden, dass die Inkas dabei doch etwas rückständig und einfältig wirken (in der Tat hat Hergé selbst ja mehrmals festgestellt, dass seine Lösung eigentlich nicht so gut ist, da die Inkas wohl durchaus in der Lage waren, selbst Sonnefinsternissen zu berechnen), aber die grundlegende Tatsache bleibt, dass am Ende alle gewinnen: Tim, Bienlein und er Kapitän weil sie nicht hingerichtet werden. Die europäischen Forscher, weil sie von dem Fluch befreit werden. Und die Inkas, weil sie sich als durchaus edles und vernünftiges Volk erweisen (auch wenn man sie erst durch einen Trick dazu bringen musste), dessen Existenzberechtigung dadurch bestätigt wird. Letzteres finde ich besonders interessant, weil es den Kulminationspunkt einer Reihe von Darstellungen bildet, in deren Verlauf die Inkas erst gesichtlose dämonische Macht, dann Gangster, dann Verschwörer sind, bis sie sich dann schließlich in einer grundlegend positiven Rolle, nämlich der einer edlen Kultur im Überlebenskampf, wieder finden. Tim hat in diesem letzten Teil entsprechend die etwas ungewöhnliche Rolle eines Mediators zwischen den Kulturen, der einerseits die Befindlichkeiten der Inkas erkennt, ihnen aber andererseits die grundsätzlich einwandfreien Motive seiner eigenen Gruppe und der verfluchten Forscher darlegen muss, was ihm ja schließlich auch gelingt.


    Puh, das war jetzt wieder arg viel - ich hoffe, das war´s wert (und antizipiere schon mal die empörten Proteste all jener, die die Darstellung der Inkas für ungerecht und ein Zeichen von Hergés böswilliger Kleingeistigkeit halten )
    Geändert von Matbs (14.03.2006 um 15:40 Uhr)

  6. #81
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    @Matbs:
    'ne Menge Lesestoff, kann ich mich erst heut' abend lesen.

    Original geschrieben von Don Alfonso:
    ??? Wo konnte man denn darüber abstimmen? Und warum sollte ich mich "nun doch" am Stammtisch beteilligen? Leider fehlte mir in den letzten Wochen die Zeit, um ausführlicher dabei zu sein...
    Findet alles nur in meinem Kopf statt. Ich mach mir einen kleinen persönlichen Spaß draus, zu tippen, wer sich bei welcher Besprechung äußern wird.

  7. #82
    Verstorben Avatar von hipgnosis
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    @matbs - tolles Statement - Bravissimo!

    Ich möchte einfach mal auf einige Deiner Aspekte eingehen, díe mir geradeso durch den Kopf schwirren - eine chronologische Abarbeitung bringt ja nicht mehr soviel, da Du ja wirklich fast jeden Punkt nochmal anschaulich beleuchtet hast.

    Deshalb nur noch ein paar Randbemerkungen von mir.

    Mit Deiner Aufteilung in die 4 Settings gehe ich konform.
    Das von Dir angesprochene Bild auf S. 134-135 der Werksausgabe mit dem "fallartigen" Übergang ist auch eines meiner Favouriten.
    Hier wird der von Dir angesprochene Abenteuerteil abrupt beendet und der Leser befindet sich schlagartig in einer anderen Kulisse.
    Lustigerweise war das beim Lesen auch einer meiner ersten Gedanken - das es sich auch hier um eine aufwendige Filmkulisse mit vielen Statisten handeln könnte.
    Auch die Kolorierung wirkt geradezu ausladend und gerade das erste Panel sprüht nur so von Detaillreichtum (zumindest in Bezug auf viele anderen Bilder)

    Die Sonnenfinsternis war als Lösung des Problems sehr gut gewählt, da die Inkakultur ja auch auf der Anbetung des Sonnengottes Inti beruht, der seine beiden Kinder, Manco Cápac und Mama Occlo, auf die Erde sandte, damit sie diese verbessern sollten. Sie gelangten auf der Sonneninsel des Titicacasees die Erde und begannen von da ihre Reise.
    Also hätte Hergé hier wirklich keinen besseren Schluß finden können.

    Natürlich macht man sich bei genauerem Studium Gedanken, wie es sein kann, daß keiner der Inkas die Sonnenfinsternis richtig einordnen konnte - aber ganz ehrlich - daß war schon beim ersten Lesen Hergé verziehen - dafür hat mich viel zu sehr sein Lösungsweg fasziniert.

    Auch aus den Darstellungen der Inkas vermag ich Hergé nichts bösartiges nachzusagen.
    Eher ist es interessant, daß hier eine Art Stadt- oder besser Zivilisationsflucht beschrieben wird. Auch das Traditionelle mit Ihren Riten und Gebräuchen wird sehr schön aufgegriffen - und das die Entweihung auch in der Inka-Religion nicht straflos behandelt wurde, davon muß man ja ausgehen.
    Würden heutzutage noch andere längst ausgestorbene Kulturen durch eine Handvoll "Auserwählter" am Leben erhalten, kann ich mir sehr gut vorstellen, daß es ähnliche Auswirkungen nach sich ziehen könnte, sollten die alten Mythen 1:1 umgesetzt werden.
    Ansonsten waren die Inkas m.W. nicht übermässig gewalttätig - sondern lediglich militärisch sehr gut strukturiert, sodaß sie sich in kürzester Zeit ein riesiges Reich schaffen konnten.

    Allerdings ist Hergé auch ein Lapsus bezüglich eines Haupthandlungselement unterlaufen. Nein ich meine nicht den großen Bär!

    Es betrifft die Voodoo-Puppen. Diese Religion stammt eindeutig aus Afrika und wurde erst im 16 Jahrhundert durch afrikanische Sklaven nach Haiti und in den Süden der USA eingeführt.
    Der Untergang der Inkas ereignete sich aber zwischen 1532 der Landung Francisco Pizarro an der peruanischen Küste und dem 24. September 1572, wo Túpac Amaru (der letzte Inka) in Cuzco durch Enthauptung hingerichtet wurde.

    Keine Ahnung warum Hergé hier den Input mit den Zauber-Puppen inszenierte - vielleicht fiel ihm auch einfach nichts sinnvolleres ein, wie er die Beeinflussung der Wissenschaftler hätte erklären sollen.
    Im Prinzip sollte man ja auch nicht jedes Comic zu wissenschaftlich interpretieren - sondern manches einfach als gelungenen Gag oder Coup betrachten.
    Geändert von hipgnosis (14.03.2006 um 16:29 Uhr)

  8. #83
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    Tim ist ja eine sehr rational agierende Titelfigur, die die Serie als Ganzes stark prägt. Ich finde, die Auflösung im "Sonnentempel" über die verzauberten Wachsfiguren, die über einen Ozean hinweg die Forscher quälen können, paßt dazu herzlich wenig. Hätte vielleicht eher bei Isnogud stattfinden können, wo fliegende Teppiche und dergleichen an der Tagesordnung sind. Deshalb meine Frage: Gibt es solche irrationalen Elemente des öfteren bei Tim und Struppi?

    Nachtrag: Deine Analyse ist erste Sahne, Matbs!

    (und das von einem Hergé-Muffel!!! Das zählt doppelt!!!)
    Geändert von Kaschi (14.03.2006 um 18:21 Uhr)

  9. #84
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    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Aber das ist natürlich nicht meine Überraschung:
    Durch das Herumblättern auf obengenannter site fand ich diese Figur.
    felix, das ist wirklich eine geleungene Überraschung! Ist ja fast wie die Entdeckung des Archaeopteryx!

    Auch wenn ein Herr van Opstal schon darüber geschrieben hat, wie wir dank Don Alfonso wissen, mir war's vollkommen neu. Ist überhaupt eine sehr schöne website. Da tut es mir echt leid, dass ich nicht französich kann.

  10. #85
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    Zitat Zitat von hipgnosis Beitrag anzeigen
    In Posting #14 erwähnte ich ja schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, daß wohl einige Probleme generell mit der Ligne claire haben dürften.

    Generell zähle ich mich nur teilweise zu dieser Gruppe, obwohl zugegebenermaßen diese Stilrichtung nicht mein Favourit ist und auch nie werden wird.
    Ist eh voll okay, ich weiß natürlich, dass Geschmäcker verschieden sind. Nur ist diese Einsicht mehr in meinem Kopf, denn in meinem Bauch verortet. Rein gefühlsmäßig überfällt mich halt immer Verwirrung und großes Staunen, wenn die Dinge die ich liebe, anderen nicht so gut gefallen. Und diesem Gefühl ab und zu Ausdruck zu verleihen ist auch okay denke ich, solange man den Geschmack der anderen respektiert. Wo der Bauch sich empört, gibt es ja dann zum Glück den Kopf, der sagt: die Leute sind verschieden und das ist auch schön! Natürlich ist es auch für mich in Ordnung, dass sich Kaschi gar nicht und Du nur ein wenig mit Herge's Zeichnungen anfreunden kannst.

  11. #86
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    Zitat Zitat von Matbs Beitrag anzeigen
    So. Bisher keine größere Ablenkung in Sicht, das werde ich doch gleich mal nutzen, um ein bisschen was über die "Kristallkugeln" und den "Sonnentempel" loszuwerden: Grundsätzlich glaube ich, dass man die Geschichte in vier grobe Teile, mit jeweils einem etwas anderen erzählerischen Fokus, einteilen kann
    Mensch matbs, das ist ja schon ein richtiger Essay, was Du uns da vorträgst! So tiefschürfende Gedanken kommen mir beim Lesen normalerweise ja nicht, aber wenn ich mir Deine Ausführungen so durchlese, dann kommen sie mir total plausibel vor, und interessant ist es auch. Kurz meine Eindrücke zur Geschichte, gegliedert nach Deinen vier Story-Teilen:
    Seltsamerweise hat mir die Mystery-Geschichte sehr gut gefallen, obwohl Fanatsy normalerweise nicht so meine Sache ist. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Teil der Geschichte besonders gekonnt in Szene gesetzt ist. Die Traumsequenz mit Rascar Capac ist ein echter Höhepunkt, finde ich. Die Kriminalgeschichte empfand ich recht spannend, wenn auch nicht ganz so gelungen wie den Mystery-Plot. Trotz der tollen graphischen Unmsetzung hat mir die Abenteuergeschichte am wenigsten gefallen. Das liegt daran, dass da für meinen Geschmack zu viele Tiere getötet wurden, vor allem Tim hat ja mehr Viecher abgeschossen als ein Großwildjäger. Ich denke es wäre möglich gewesen, die Gefahren der Wildnis glaubhaft zu machen, ohne so ein Gemetzel zu veranstalten. Aber vielleicht bin ich da ein bisschen zu streng. Der interkulturelle Kontakt schließlich hat mir wieder sehr gut gefallen. Und von wegen ungerechter Darstellung der Inkas, wenn man die Entstehungszeit berücksichtigt, dann ist da Herge schon ziemlich ausgewogen in seiner Schilderung.

  12. #87
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    Original geschrieben von Josias:
    Ist überhaupt eine sehr schöne website.
    Find' ich auch. Der Mann war wirklich ein guter Zeichner.

    @Matbs: Allein schon Dein Engagement verdient äußerste Beachtung.
    Dass das was Du schreibst dann auch noch so lesenswert ist, macht Deine Kommentare aber zu einem echten Vergnügen.
    Eine kleine Bitte habe ich dennoch: Bau mal ein paar Absätze in Deine Statements. Bei Deinen kompakten "Blöcken" fällt die Orientierung zur nächsten Zeile manchmal schwer.

    In einem Punkt muss ich nochmal nachfragen:
    Die Charaktere sind nicht Herren der Situation, sie wissen nicht einmal genau, was die Situation ist (was sie natürlich nicht von dem Versuch abhält, etwas zu tun) - sie sehen sich mit einer Macht konfrontiert, die fast völlig unpersönlich und gesichtslos dargestellt wird (den einzigen "Antagonisten", den wir in Verbindung mit ihr zu sehen kriegen, ist die Mumie des Rascar Capac, die lediglich im Traum als aktiver Charakter auftritt und somit natürlich jenseits der Reichweite der Protagonisten ist - creepy), und die entsprechend nicht bekämpft werden kann, weil sie kein Ziel bietet (merke: Wie auch bei LL sind Konflikte bei T&S in den meisten Fällen personalisiert, da die Geschichten meist weitgehend darauf verzichten, einen klar definierten übergeordneten gesellschaftlichen Kontext zu präsentieren, auf dem weiterreichende Konflikte angesiedelt werden könnten.
    Siehst Du die fehlende Personifizierung des Antagonisten nur am Anfang der story, also darin, dass der Gegenspieler zunächst im Obskuren bleibt und "unangreifbar" zu sein scheint ?

    Im vorliegenden Zweiteiler haben wir mE nämlich genau den von Dir in Klammern dargestellten Ausnahmefall, d.h. einen eher unpersönlichen Kampf Tims, den er mehr mit gesellschaftlichen/religiösen Normen denn mit konkreten Personen auszufechten hat.
    Selbst der Herr Oberinka fühlt sich nur als Erfüller einer Norm, jeder andere in seiner Position hätte den Professoren, Tim & Co. das Leben ebenso schwer gemacht, es wäre ihr Job gewesen.

    Diese Normen sind offenbar in einem rigiden, ja - wie Du schreibst - drakonischen Gesetz festgehalten:

    Du sollst die Schätze der Inkas nicht rauben. ("Diese Männer haben uns wie Hyänen ausgeraubt und unsere Heiligtümer geschändet. Ihre Strafe ist verdient")
    Du sollst nicht in den Sonnentempel eindringen ("Unser Gesetz kennt nur eine Strafe für die, die in den Sonnentempel vordringen: den Tod")
    Du sollst nicht den Armreif des Rascar Capac tragen ("Euer Freund wird ebenfalls hingerichtet werden, denn er trug den Armreif des Rascar Capac ...").

    Das erste Tabu wird von Tims Mitreisenden auf Seite 1 der Kristallkugel bereits angesprochen. Ein schöner erzählerischer Trick, um dem Leser eine Vorahnung der kommenden Dinge zu geben.

    Da es sich hier um religiöse Normen handelt (ich habe die religiösen Begriffe in den Zitaten fett hervorgehoben, im letzten Fall handelt es sich offenbar um eine Reliquie) ist die Errettung Tims und seiner Freunde nur konsequent: Er beweist sich als Welten- oder zumindest Sonnenbeweger wodurch ihm selbst religiös zu deutende Kräfte zugerechnet werden.
    Dies verleiht ihm in den Augen der Inkas Kompetenz, Ansehen und vor allem einen Heiligenschein. Wer sonst außer Auserwählten verfügt über übernatürliche Kräfte ? Und dann auch noch Kräfte über die von ihnen verehrte Sonne. Auf den Mann muss man ja hören ...

    Hergés Zweifel sind sicher berechtigt: Die Inkas waren hervorragende Sternbeobachter und wären wohl kaum auf Tim hereingefallen, aber was soll's: das Ende gefällt mir trotzdem. (siehe hip)

    Übrigens (weil es gerade so gut zum Religiösen passt):
    Die Wachsfiguren haben mich nicht nur aufgrund ihres esoterischen Aspekts gestört.
    Passen sie überhaupt in eine - wenngleich fiktive - Inkakultur. Gehört Voodoo nicht eher nach Haiti ? (siehe hip)

    Also was dann? Ich hab´s mal mit „der interkulturelle Kontakt“ überschrieben, denn hier geht es ja in erster Linie um die Interaktion zwischen zwei verschiedenen Kulturen.
    Kann ich dem Amerikanisten mit "lost civilization plot" weiterhelfen ?

    Zu der halbseitigen Zeichnung auf Seite 47 des Sonnentempel wollte ich auch noch was schreiben, aber jetzt wird's mir zu spät.
    Gute Nacht !
    Geändert von felix da cat (14.03.2006 um 21:57 Uhr)

  13. #88
    Mitglied Avatar von Mick Baxter
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    Zitat Zitat von Kaschi Beitrag anzeigen
    Übrigens: ob "École Marcinelle" als Gegenbegriff zur "Ligne Claire" taugt, ist durchaus fragwürdig. Vergleiche hier:
    http://www.comicforum.de/showthread.php?t=70502
    Wenn ich mich recht an die Diskussion erinnere, ließ sie offen, was noch alles zur Ècole Marcinelle" gehört. Allerdings sind die "typischen" Vertreter der beiden Schulen gut auseinanderzuhalten.

  14. #89
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    Original geschrieben von hipgnosis:
    Ansonsten waren die Inkas m.W. nicht übermässig gewalttätig - sondern lediglich militärisch sehr gut strukturiert, sodaß sie sich in kürzester Zeit ein riesiges Reich schaffen konnten.
    Das stimmt leider nicht (wie sollten sie auch sonst innerhalb kürzester Zeit ein riesiges Reich schaffen):

    Das Riesenreich der Inka
    entwickelte sich etwa zeitgleich zum Aztekenreich, war aber weitaus zentralistischer organisiert. Ausgehend vom Cuzco-Tal in Südperu unterwarfen die Inka bis etwa 1525 faktisch den gesamten Andenraum Ecuadors, Perus, Boliviens sowie Teile von Argentinien und Chile auf einer Länge von 4000 km. An der Spitze des Staates stand der „Inka” als absoluter Herrscher, der als Sohn des Sonnengottes verehrt wurde. Die Machtausübung beruhte auf einer Art Belohnungsprinzip: Unterworfene Völker wurden durch Beute aus weiteren Eroberungszügen belohnt und hatten somit ein Interesse an der Inka-Suprematie.
    Und in der Wikipedia ist zu lesen:
    Als die Inka im Gebiet von Cuzco eintrafen, lebten hier noch verschiedene andere Stämme, unter anderem die Gualla und die Sauasera. Die Gualla wurden von dem relativ kleinen Volk der Inka angegriffen und allesamt getötet. Daraufhin schlossen sich die Sauasera mit einem anderen Stamm zusammen und versuchten sich gegen die Eindringlinge zu wehren. Die Inka besiegten auch diesen Stammesverbund und machten sich daran, die übrigen Stämme zu unterwerfen.
    Der fünfte Inka Cápac Yupanqui führte erstmals Feldzüge gegen weiter entfernte Völker. Ab diesem Zeitpunkt gewannen die Inka regionale Bedeutung.
    Durch die zunehmende Dominanz der Inka kam es zu Konflikten. Der achte Inka Viracocha Inca besiegte schließlich seinen Rivalen Tocay Cápac und unterwarf das Volk der Ayarmaca.
    Túpac Yupanqui übernahm 1471 als 10. Inka die Herrschaft des Reiches von seinem Vater. Unter seiner Führung errang das Inkareich die größte Ausdehnung. Durch Eroberungszüge konnte er das Gebiet zwischen Quito in Ecuador und Santiago in Chile dem Reich einverleiben.
    Er verlegte seinen Hauptsitz nach Quito, um den unsicheren Gebieten näher zu sein und bemühte sich um weitere Expansion.
    Die Zweiteilung des Reiches führte zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den beiden Brüdern. Obwohl Huáscar von den Inka geschätzt wurde, unterlagen seine Leute den kampferprobten Truppen aus dem nördlichen Territorium im Jahr 1532. Huáscar wurde dabei gefangen genommen und hingerichtet. Atahualpa war damit der unumschränkte Herrscher über das gesamte Inkareich
    Pizarro fand kein starkes Reich vor, sondern einen Staat, der in einen Nachfolgekrieg zwischen den Brüdern Atahualpa und Huáscar verstrickt war. Dieser Bürgerkrieg erschütterte die Grundfesten des Reiches und die Unzufriedenheit der unterworfenen Völker beschleunigte den Zusammenbruch.
    Die Inka waren also so etwas wie eine frühe Supermacht Südamerikas und alles andere als zimperlich.
    Geändert von felix da cat (15.03.2006 um 08:16 Uhr)

  15. #90
    Verstorben Avatar von hipgnosis
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    @felix da cat

    Einspruch der Herr!

    Natürlich fielen Ihnen auch bei Ihren Eroberungszügen einige Stämme der Gewalt zum Opfer, die sich Ihnen nicht kampflos unterwerfen wollten.

    Das versteht sich von selbst, bei Kriegszügen - deshalb habe ich es erst gar nicht extra betont. Aber die meisten Stämme unterwarfen sich relativ schnell und wurden mit den kleinen Belohnungen geködert.
    So etwas nenne ich militärisch sehr gut strukturiert. Könnte man als Supermacht selbstverständlich mit den heutigen USA vergleichen.

    Mein Bezug war auch mehr auf die Gewalt dem eigenen Volke gegenüber bezogen. Und da kennt man ja gerade von den Azteken oder den Mayas ganz andere Opferspielchen - um es mal vorsichtig auszudrücken.

    Diese Taten konnte ich aber bisher nirgends mit dem Inkareich in Kontakt bringen. Gewaltlos war aber dieses zentralistische, diktatorische geführte Reich sicherlich nicht - so hatte ich es auch nicht verstanden haben wollen.

    Mir ging es mir um den direkten Bezug - und da bieten sich doch z.b. die Mayas oder Azteken stark an, da es sich auch um Reiche handelt die geografisch auf dem gleichen Kontinent angesiedelt sind - und ich bin mir sicher, daß viele diese Kulturen auch öfters in einen Topf werfen, obwohl sie zeitlich -zumindest die Mayas - weit auseinander liegen.

  16. #91
    Mitglied Avatar von Matbs
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    AAAAAAAAHHH!!! AAAAAH!!!!! Da sitze ich seit einer Dreiviertelstunde hier und schreibe ellenlange Absätze, dann drücke ich auf "Antworten", das Mistding findet den verdammten Server nicht UND DANN IST ALLES WAS ICH GESCHRIEBEN HABE EINFACH SO WEG!!!! WEG!!!!!! UND WEIL ICH EIN VOLTROTTEL BIN, HAB ICH ES NATÜRLICH NICHT KOPIERT ODER SO!!!!!

    AAAAAAAAAAARGH!!!!!!!





    Seufz. Na gut. Alles in Ordnung. Hab´ mich wieder im Griff.

    Ich versuch´s einfach noch mal, vielleicht krieg ich es ja ungefähr wieder hin...



    @ alle: Danke! Freut mich, dass ihr´s interessant findet.


    Zitat Zitat von Josias Beitrag anzeigen
    So tiefschürfende Gedanken kommen mir beim Lesen normalerweise ja nicht
    Kein Angst, mir auch nicht. Hier habe ich gezielt meine durch ca. einjährige Nichtbenutzung schon leicht eingerosteten Literatur-Deutungs-Skills eingesetzt (was ich sonst eher nicht mache), und dabei wieder mal festgestellt, wie sehr es mir Spass macht, mich ernsthaft mit Literatur (und je mehr ich mich mit T&S beschäftige, um so mehr bin ich angesichts der Ergiebigkeit und Vielschichtigkeit der Materie der Meinung, dass es sich tatsächlich um Literatur handelt) zu beschäftigen und sie auf Themen, Handlungsmotive, Charakterdarstellung, erzählerische und stilistische Konzepte, implizite und explizite Aussagen usw. zu untersuchen. Nicht zuletzt übrigens auch deshalb, weil ich hier im CF schon öfter den Eindruck hatte, dass hier Viele sich bei der Beschäftigung mit Comics ganz gerne nur auf die bloßen Formalia (Entstehungszeit, Stil, Zeichner, Einflüsse aus dem Medium usw.) beschränken und der nächste Schritt, nämlich eine umfassendere inhaltliche Auseinandersetzung mit der Materie, oftmals kaum oder nicht ganz so ernsthaft betrieben wird, was ich immer ein bisschen schade finde.
    Andererseits habe ich auch mal wieder festgestellt, dass dieser nächste Schritt überraschend viel Zeit und Energie kostet, und mich die intensive Beschäftigung mit T&S in den letzten Tagen schon so ein bisschen von eigentlich wichtigeren Dingen (wie z.B. meiner Magisterarbeit) abgehalten hat, deshalb kündige ich jetzt schon mal im Voraus an: Beim nächsten Stammtisch nehme ich mich wieder mehr zurück, das kostet sonst leider zuviel Zeit und Konzentration, die mir dann anderswo ein bisschen fehlt.


    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Eine kleine Bitte habe ich dennoch: Bau mal ein paar Absätze in Deine Statements. Bei Deinen kompakten "Blöcken" fällt die Orientierung zur nächsten Zeile manchmal schwer.
    Ah, da hast du mich jetzt erwischt.
    Ich muss gestehen, ich leiste mir hier so ein bisschen den Luxus, keine wissenschaftlich saubere oder journalistisch klare Schreibweise zu verwenden, sondern meine Gedanken in einer Art Stream-of-Consciousness-Modus einfach so rauszurotzen. Da ich schneller denke als ich schreibe (beim Reden ist das Gott sei Dank etwas anders...) führt das dann zu einem etwas atemlosen, wirren Monolog voller überlanger Schachtelsätze (und Klammern [und Klammern in Klammern - mit Spiegelstrichen]), der nicht besonders einfach zu lesen ist. Da es sogar mir so geht, werde ich dann in Zukunft versuchen, das etwas besser zu machen.


    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    In einem Punkt muss ich nochmal nachfragen:

    Siehst Du die fehlende Personifizierung des Antagonisten nur am Anfang der story, also darin, dass der Gegenspieler zunächst im Obskuren bleibt und "unangreifbar" zu sein scheint ?

    Im vorliegenden Zweiteiler haben wir mE nämlich genau den von Dir in Klammern dargestellten Ausnahmefall, d.h. einen eher unpersönlichen Kampf Tims, den er mehr mit gesellschaftlichen/religiösen Normen denn mit konkreten Personen auszufechten hat.
    Selbst der Herr Oberinka fühlt sich nur als Erfüller einer Norm, jeder andere in seiner Position hätte den Professoren, Tim & Co. das Leben ebenso schwer gemacht, es wäre ihr Job gewesen.
    Jetzt wird´s schwierig. Hier hatte ich eine ziemlich gute aber etwas komplizierte Antwort, bei der ich mir nach diesem &$#@* Unfall nicht mehr sicher bin, ob ich sie noch mal so gut hinkriege (besonders weil ich immer noch etwas frustriert bin und mich das ablenkt).

    Ja, ich würde diese fehlende Personifizierung eines Gegners und den daraus resultierenden Mangel an aktiven Handlungsmöglichkeiten für die Charaktere vor allem im ersten Teil sehen. Im letzten Teil haben wir in der Tat einen sehr ungewöhnlichen Fokus auf eine soziokulturelle Ebene, aber ich glaube, wir haben hier eben gerade deshalb keinen echten Kampf zwischen Tim und den Inkas (auch wenn das angesichts der Tatsache, dass Tim, Haddock und Bienlein erstmal am Scheiterhaufen verbrannt werden sollen, vielleicht erstmal seltsam klingt), denn es geht ja nicht länger darum, irgendjemanden zu besiegen: Die Kultur der Inkas ist hier weniger aktiver Antagonist, als vielmehr das Medium, in dessen (erstmal fremden) Konventionen Tim agieren muss - sie ist weniger der "Gegner", sondern stattdessen eher das "Spielfeld", auf dem das Geschehen stattfindet. Entsprechend haben wir hier zwar eine Kultur, mit der Tim sich auseinandersetzt, aber sie ist eben kein klassischer "Feind", der sich - im herkömmlichen Stil - besiegen ließe.
    Hergé entschliesst sich hier, eine ganze Kultur nicht nur als impliziten Background einer Handlung zu präsentieren, sondern sie in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen, womit er in der Tat sehr stark von der normalerweise personenbezogenen Erzählweise von T&S abweicht.
    Weiterhin entschliesst er sich, die Vorteile dieses Ansatzes zu nutzen, und diese Kultur differenziert darzustellen (was bei autonomen einzelnen Charakteren eher nicht möglich wäre, denn sie sind durch die klare Rollenverteilung der Serie normalerweise auf einfachere Motivationen und entsprechend auch einfachere narrative Funktionen festgelegt). Dadurch haben wir eine ziemlich faszinierende Situation: Auf der einen Seite Tim & Co, die per Definition "die Guten" sind. Aber auf der anderen Seite sind diesmal nicht "die Schlechten", sondern die Inkas, deren Darstellung unf Motivationen so angelegt sind, dass sie eben gerade nicht der zu besiegende "Gegner" sind. Durch diese (wie gesagt sehr ungewöhnliche) Verlagerung auf eine übergeordnete Ebene ist eine klassische Konfliktsituation mit einer klassischen Lösung im grundsätzlich gerechten Kosmos von T&S nicht mehr möglich, denn beide Seiten haben ja einen guten Grund, zu tun, was sie tun. Die Lösung, die hier gefunden wird ist dementsprechend auch eine "soziokulturelle" und keine interpersonale, sie besteht letzten Endes in einer Akkomodation beider Kulturen (d.h. man nähert sich an und erkennt die Sichtweise des anderen als valide an, ohne dabei seine eigene Identität aufzugeben oder die Integrität seines Standpunktes zu gefährden), was ich persönlich für sehr bemerkenswert und von der Grundaussage her extrem positv halte (und für eine Grundaussage, die auch heute noch unglaublich relevant ist).
    Aber noch mal: Das alles ist nur möglich weil:
    a) hier eine kulturelle Ebene thematisiert wird, die es möglich macht, die traditionellen Rollen von T&S ein Stück weit zu überwinden, und
    b) damit auch die klassischen Lösungswege um die Möglichkeit eines Kompromisses erweitert werden, bei dem alle gewinnen.
    Das funktioniert aber eben nur, weil Hergé ganz bewusst von der normalen, personalen Ebene mit individuell agierenden und rein persönlich motivierten Charakteren abweicht; so wäre z.B. ein Kompromiß zwischen Tim und Rastapopolus niemals möglich, da ihr Konflikt rein persönlicher natur ist und die Rollen und Funktionen klar verteilt sind -Rastapopolous ist ein Schurke (als Einzelperson kann er diese Rolle auch glaubwürdig verkörpern), seine Befindlichkeiten und Ziele sind denen Tims diametral entgegengesetzt und moralisch verwerflich, entsprechend kann er auch ohne Gefährdung der "großen Gerechtigkeit" besiegt werden (in der Tat muss er sogar besiegt werden, damit diese "große Gerechtigkeit" gewahrt bleibt, während ein Sieg auf Kosten der Inkas, so wie sie dargestellt sind, ungerecht wäre).

    Hm. Meine letzte Antwort war irgendwie besser, sorry. Aber vielleicht ist ja trotzdem nachvollziehbar, worauf ich hinaus will...



    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Kann ich dem Amerikanisten mit "lost civilization plot" weiterhelfen?
    . Na klar! Irgendwie habe ich total übersehen, dass wir hier eine Variation des Lost Civilization-Motivs haben, das so vor allem aus der Pulp-Tradition stammt, sehr gut erkannt, felix. Allerdings kenne ich mich da nicht genug aus, um letztendlich beurteilen zu können, ob Hergé sich hier wirklich der "klassischen" Grundstruktur eines solchen Diskurses bedient oder nicht ("Trivialliteratur" war nicht Teil des gängigen Literaturkanons am FB Amerikanistik meiner Alma Mater, und ich bin ja auch nur Nebenfächler...) - auf den ersten Blick würde ich allerdings sagen, dass Hergé von den gängigen Verwendungsmöglichkeiten dieses Motivs etwas abweicht, da die verlorene Zivlisation weder böse und dekadent ist, noch edel und von Barbaren belagert (Letzteres zwar implizit schon, aber es wird nicht vertieft und zum Teil der Handlung gemacht).

    So, eigentlich wollte ich noch was zu Kaschis letzter Frage und zu den "Voodoo"-Puppen schreiben, aber das mach´ ich dann später...
    Geändert von Matbs (15.03.2006 um 22:35 Uhr)

  17. #92
    Verstorben Avatar von hipgnosis
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    Zitat Zitat von matbs
    Beim nächsten Stammtisch nehme ich mich wieder mehr zurück, das kostet sonst leider zuviel Zeit und Konzentration, die mir dann anderswo ein bisschen fehlt
    Etwas zurücknehmen ist erlaubt - aber nicht ganz zurückziehen, Hagel und Granaten!

    Noch ein Sätzchen zu @Josias

    Das mit dem Geballer auf die Tiere hat mich auch irgendwie bewegt - ich wußte bisher noch nicht wie ich es in unseren Thread einbinden sollte.
    Allerdings musst du dir mal die Originalausgabe bzw. die in der Albenfassung gekürzten Bilder anschauen - mein Gott - da wird noch viel mehr sinnlos gemetzelt.
    Eine Schlange - ein Jaguar ...

    Wirklich nicht die feine englische Art - da kam wohl noch etwas der belgische Kolonial-Herrschaftsstil in Hergé durch!

  18. #93
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    @Matbs:
    Das Problem kenn' ich. Der Horror, wenn man seinen frisch entwickelten (und noch nicht fest im Hirn verankerten) Gedanken nachjagen muss, um das verloren gegangene halbwegs auf die Reihe zu kriegen.

    Wie Du ja schon lesen konntest, hatte auch ich den Eindruck, im Sonnentempel wird eher gegen ein verknöchertes Wertesystem denn gegen Bösewichte angekämpft. Insofern war das versöhnliche Ende das einzig richtige.

    Stream-of-consciousness: Dir ist aber schon bewußt, dass es diese Art zu schreiben keinem Leser besonders leicht macht ...
    Darfst in Bezug auf Deine Absätze also ruhig noch ein bisschen mutiger werden ... (aber ich sehe schon erfreuliche Ansätze)

    Wie angekündigt komme auch ich auf das halbseitige Bild auf Seite 47 des Sonnentempel zu schreiben.
    Es ist nämlich das einzige dieser Größe. Und das finde ich bemerkenswert.

    Die Kristallkugeln haben derer immerhin 3: auf den Seiten 16, 49 und 58, außerdem noch ein fast so großes auf Seite 15.

    Bemerkenswert finde ich das in Hinblick auf die Urfassungen der beiden Abenteuer und die Selbstbeschränkung, die sich Hergé auferlegt hat.

    Wieso ?

    Nun, die Kristallkugeln hatten ihre Uraufführung in Stripform. Das in der Albenform wiedergegebene relativ starre Layout erklärt sich schon aus dieser Tatsache.
    Der Sonnentempel wurde in Tintin vorabgedruckt, einer großformatigen Zeitschrift, zudem im Mittelteil, so dass Hergé sehr viel Spielraum gehabt hätte, mit dem Layout zu experimentieren.

    Tatsächlich gibt es in beiden Geschichten keine Panels, die einen ganzen Streifen einnehmen würden (das letzte Panel aus den Kristallkugeln zählt nicht !).
    "Das" Breitwandpanel schlechthin findet sich in der Kristallkugel, Seite 30, Streifen 3, und teilt sich den Raum mit einem Winzbild, so als ob letzteres noch unbedingt dorthin gepackt werden musste.
    Regelrecht in Atemnot kommen einige Bilder auf dem beinahe klaustrophobischen oberen Viertel der Seite 9 des Sonnentempels (18 Bilder auf einer Seite !).

    Nun mag man dies als nicht besonders erwähnenswert empfinden, ich bin jedoch der Meinung, dass auch diese Form der Gestaltung eines Comic schon viel über einen Autor und sein Selbstverständnis verrät.

    Hergé wird zu viele zu große Bilder wohl als unmotivierte Effekthascherei empfunden haben.
    Er wollte vornehmlich eine Geschichte erzählen und diese nicht mit allzuviel ablenkendem Brimborium umgeben, getreu dem Jijéschen Credo folgend, dass die Zeichnungen sich der Geschichte unterzuordnen haben.

    Es hätten sich vielfältig Möglichkeiten ergeben große Panels in die Geschichte um den Sonnentempel einzuarbeiten.
    Die herrliche Andenlandschaft, ein Blick auf den Dschungel usw.

    Später relativierte er diese konservative Haltung für eine Story; das Mondabenteuer ist gespickt mit großen, spektakulären Bildern. Wahrscheinlich hat ihn die Mondlandschaft selbst so in ihren Bann gezogen, dass er gewissermassen ein Opfer seiner eigenen Faszination wurde.

  19. #94
    Mitglied Avatar von Matbs
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    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Wie Du ja schon lesen konntest, hatte auch ich den Eindruck, im Sonnentempel wird eher gegen ein verknöchertes Wertesystem denn gegen Bösewichte angekämpft. Insofern war das versöhnliche Ende das einzig richtige.
    Und einzig mögliche. Da stimme ich dir fast voll zu. Vielleicht mit der Einschränkung, dass ich das soziokulturelle Umfeld der Inkas nicht unbedingt als verknöchertes Wertesystem, und die Auseinandersetzung mit ihm nicht unbedingt als Kampf bezeichnen würde. Denn das klingt mir schon fast wieder negativer, als es Hergé m.M.n. intendiert hat (so etwa nach "rückständige Inkas werden von fortschrittlichen Europäern besiegt und dann zur Vernunft bekehrt" - zumindest die Adjektive wären mir bei dieser Aussage zuviel, und auch die Verben mag ich da nicht so...). Aber wie gesagt, ich seh´s ja trotzdem sehr ähnlich.


    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Stream-of-consciousness: Dir ist aber schon bewußt, dass es diese Art zu schreiben keinem Leser besonders leicht macht ...
    Ja. Dafür macht sie es dem "casual" Schreiber leicht. Und das bin ich - das zählt doch auch was, oder ?
    Wenn ihr zahlendes Publikum wärt, könnte ich da schon noch ganz anders...



    Zitat Zitat von Kaschi Beitrag anzeigen
    Tim ist ja eine sehr rational agierende Titelfigur, die die Serie als Ganzes stark prägt. Ich finde, die Auflösung im "Sonnentempel" über die verzauberten Wachsfiguren, die über einen Ozean hinweg die Forscher quälen können, paßt dazu herzlich wenig. Hätte vielleicht eher bei Isnogud stattfinden können, wo fliegende Teppiche und dergleichen an der Tagesordnung sind. Deshalb meine Frage: Gibt es solche irrationalen Elemente des öfteren bei Tim und Struppi?
    Wenn du sie so nennen willst, ja die gibt es, und nicht zu knapp: Wir haben da Spinnen mit Riesenwuchs (die von Äpfeln mit Riesenwuchs erschlagen werden), Ausserirdische, Telepathen, levitierende Mönche mit Visionen, den Yeti, immer richtig liegende Pendel, instant wahnsinnig machende Gifte, Fakire mit hypnotischen Kräften, Schurken die von Teufeln in die Hölle hinweggetragen werden, Hyperschallwaffen die ganze Städte vernichten können, eine Weltraumzentrum mit extrem schlechter Sicherheit (von der Nasa würde keiner erwarten, dass die aus versehen die Schul(t)zes UND einen bordurischen Spion mit auf den Mond schiesst, oder?), Erdölderivate vernichtende Chemikalien, Staaten die es gar nicht gibt, und und und....

    Warum zähle ich das alles auf?

    Na ja, ich will da einen ganz bestimmten Punkt machen: Auf den ersten Blick wirkt Hergés Kosmos ja durchaus realistisch. Aber täusch´ dich da nicht, natürlich ist er das nicht. Ja, Hergé hat i.d.R. sehr sorgfältig recherchiert. Und ja, er hat den Humor der ernsthaften Handlung untergeordnet. Aber nichtsdestotrotz ist seine Welt die Bühne für Abenteuer, in der ständig die unglaublichsten Dinge passieren - bloß meistens funktioniert das Prinzip des "Suspension of Disbelief" so gut, dass wir diese Dinge kaum oder gar nicht in Frage stellen, sondern sie einfach als integralen Teil der Geschichte anerkennen. Und das, obwohl uns natürlich ganz genau klar ist, dass es sie in der echten Welt so nicht gibt.
    Vielleicht wirkt das hier bei dir, und vielleicht auch anderen, deshalb nicht so gut, weil hier die Erklärung übernatürlich ist, und das mit deiner Vorstellung von dem, was in T&S geht, erstmal nicht konform ist. Aber rein funktionell macht es doch eigentlich erst mal keinen Unterschied, ob etwas Unrealistisches mit Zauberei oder z.B. Technik erklärt wird - "unrealistisch", in dem Sinne dass es in der echten Welt nicht existiert, bleibt es trotzdem (auch wenn wir interessanterweise wohl in der Tat dazu neigen, technische Erklärungen, egal wie absurd sie sind, eher zu akzeptieren als übernatürliche).

    Entsprechend müsste man sich fragen: Wäre das ganze vielleicht leichter zu glauben, wenn die Inkas als technisch hochentwickelte Kultur portraitiert würden, die die Forscher mittels einem Gehirnwellen störenden Psi-Sender bestrafen? Paradoxerweise vielleicht ja, obwohl es ja eigentlich von der Realität noch viel weiter entfernt wäre.
    Wie war das eigentlich beim der Blake & Mortimer-Stammtisch (ich gucke jetzt aus Faulheit nicht selbst nach...): Hat sich da jemand an der unglaublich hahnebüchenen gedankenkontroll-Erfindung gestört, mit der Olrik zum willenlosen Supermann wird? Wenn nein, warum eigentlich nicht?

    Insgesamt sollte man sich bewusst machen, dass Tim zwar in der Tat sehr rational ist, aber diese Rationalität m.M.n. eher im Sinne fehlender Emotion als im Sinne strengster wissenschaftlicher Skepsis zu verstehen ist. Der Grund, warum er im ersten Teil der "Kristallkugeln" so hilflos ist liegt nicht so sehr darin, dass er nicht in der Lage wäre, das Übernatürliche in Betracht zu ziehen, als vielmehr darin, dass es ihm angesichts dieses Übernatürlichen an Ansatzpunkten für sinnvolles (also rationales) Handeln mangelt, und er entsprechend nicht in der Lage ist, das "Logische" oder "Richtige" zu tun.

    Einer der vielen Gründe, warum ich Tims Kosmos so sehr mag, liegt darin, dass darin Platz für das Unbekannte ist. Auch wenn Tims Weltsicht eher rational, vielleicht sogar wissenschaftlich kühl ist (und wie gesagt, so sicher kann man sich da eigentlich gar nicht sein, denn Tim wird ja oft genug mit dem Unglaublichen konfrontiert), seine Welt ist es nicht.
    Hergé ist mutig genug, um in ihr echte Mysterien existieren zu lassen (und nicht nur Pseudomysterien, die dann mit pseudowissenschaftlichen Pseudoerklärungen mundanisiert und "entzaubert" werden, wie z.B. sehr oft bei Yoko Tsuno anzutreffen), die letzten Endes nicht rational erklärbar sind, sondern an die wir einfach glauben müssen. Bei allem Realismus erlaubt er es uns somit, seine Welt als groß und geheimnisvoll zu erleben, als einen Ort, der auch etwas träumerisches und mystisches hat, und in dem Geheimnisse auch mal mit dem Wissen der modernen Gesellschaft (und damit auch uns) unerklärbar bleiben. Die Grundstimmung, die dabei entsteht, finde ich unglaublich faszinierend (und nicht nur ich, wie unzählige ähnliche Ansätze in anderen Geschichten belegen - ein gutes Beispiel wäre z.B. Indiana Jones), denn anstatt einer hermetischen, in sich geschlossenen und ultimativ erklärbaren Welt finden wir hier einen Ort, der genug Platz für Abenteuer auch mal jenseits des Erklärbaren bietet.

    Das heisst natürlich, dass Hergé mit dem Übernatürlichen leichtfertig oder inflationär umgeht: Im Gegenteil, er kontrolliert es sehr genau, und bringt es nur da, wo es der Geschichte dienlich ist. Selbst dann ist das Übernatürliche bei Hergé nie zu überzogen, nicht Zentrum der Geschichte, sondern eben narratives und stimmungsschaffendes Mittel. Deshalb würde er auch nie auf fliegende Teppiche oder einen Verwandlungstrank (nur mal als Beispiele aus Isnogud) zurückgreifen. Bei Hergé werden die Ausserirdischen niemals gezeigt, und die Magie die Inkas ist keine allmächtige Waffe mit klaren Bedienungsrichtlineien, sondern ein spezifisches Instrument, dessen Einsatz ausserhalb der eigentlichen Handlung stattfindet.
    Zudem gibt es ja auch mehr als genug T&S-Geschichten, wo das Paranormale gar keinen Platz hat. Aber hin und wieder erinnert Hergé uns eben daran, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, die sich unserer Ratio entziehen, das die Welt nicht nur ein mundaner Ort ist, sondern auch ein Platz für Abenteuer und Mysterien.

    Übrigens scheint es mir so, als wäre Hergés Akzeptanz des Übernatürlichen im Laufe seiner Karriere gewachsen: In Tim im Kongo ist Zauberei noch sinnloser Mumpitz, der von Tim durschaut und mit Hilfe moderner Technik entlarvt werden kann. Diesen jugendlichen Glauben in die absolute Kontrollierbarkeit der Welt durch Ratio und Vernunft erodiert dann ganz langsam über die nächsten Abenteuer (schon die "Zigarren des Pharao" sind ja ziemlich mystisch angehaucht, auch wenn Hergé da noch vor dem eindeutig Übernatürlichen zurückschreckt), was der Serie insgesamt zugute kommt (zumindest m.M.n.), denn dadurch werden die Abenteuer interessanter, und die Liste der möglichen Sujets, Motive und Erzählmuster breiter.
    Das ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es gleichzeitig auch eine Frage der Akzeptanz des Fremden ist: Hergés wachsende Akzeptanz von Phänomen ausserhalb der anerkannten rationalen Normen unserer westlichen Denkweise geht einher mit der wachsenden Akzeptanz und wachsendem Respekt vor Kulturen, deren Traditionen und Denkweisen eben nicht der unseren entsprechen: In Tim im Kongo sind die Rollen zwischen dem zivilisierten Tim und den primitiven Wilden noch klar verteilt. Im "Sonnentempel" ist das schon lange nicht mehr so eindeutig, und zwar auch deshalb, weil die Inkas der kalt-wissenschaftlichen modernen Aussenwelt ihre eigene größere Spiritualität entgegensetzen können, die eben nicht mehr nur Mumpitz ist.
    Ohne Hergés Entwicklung zu dieser Akzeptanz des "Anderen" oder "Fremden" hin, wären weder der "Sonnentempel" noch "Tim in Tibet" möglich gewesen. Und das wäre unendlich schade.


    Öhm. Eigentlich sollte das eine kurze Antwort werden. Isses aber dann wieder nicht geworden. Aber immerhin hab´ ich Absätze gemacht, dafür erwarte ich Anerkennung.



    Vielleicht noch mal ganz kurz zu dem "Voodo-Puppen-Problem": Ich bin da sicher kein Experte, aber ich glaube, dass das Prinzip der "Sympathetic Magic" (allein die Tatsache, dass mir kein dt. Begriff einfällt unterstreicht noch einmal mein nicht-Expertentum), also der magischen "Resonanz" zwischen dem Abbild einer Person (möglicherweise inklusive bestimmter persönlicher Gegenstände) und der Person selbst Teil vieler verschiedener magischer Rituale in verschiedenen Kulturen ist. Wir neigen wohl in der Tat dazu, diese Art von Zauberei sehr stark mit dem Voodoo-Kult zu verbinden, aber ich bin mir gar nicht so sicher, ob diese Assoziation auch schon im Europa der 40iger existierte.
    Deshalb glaube ich, dass Hergé da vielleicht gar nicht speziell an Voodoo gedacht hat, sondern einfach nur eine Darstellungsform für den Fluch suchte, die irgendwie passend wirkte, und die entsprechend gut graphisch darzustellen war. Und gerade da trifft er ja eigentlich den Nagel auf den Kopf, denn ohne die Puppen müsste der Priester mit den Armen wedeln und erklären, dass der Fluch nun gebrochen ist - da ist die Puppen-Variante doch viel anschaulicher und nachvollziehbarer.
    Geändert von Matbs (15.03.2006 um 22:32 Uhr)

  20. #95
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    Original geschrieben von Matbs:
    Da stimme ich dir fast voll zu. Vielleicht mit der Einschränkung, dass ich das soziokulturelle Umfeld der Inkas nicht unbedingt als verknöchertes Wertesystem, und die Auseinandersetzung mit ihm nicht unbedingt als Kampf bezeichnen würde. Denn das klingt mir schon fast wieder negativer, als es Hergé m.M.n. intendiert hat (so etwa nach "rückständige Inkas werden von fortschrittlichen Europäern besiegt und dann zur Vernunft bekehrt" - zumindest die Adjektive wären mir bei dieser Aussage zuviel, und auch die Verben mag ich da nicht so...). Aber wie gesagt, ich seh´s ja trotzdem sehr ähnlich.
    Verknöchert: Bedenke, dass Bienlein mit dem Tod bestraft werden soll, nur weil er den Armreif des Rascar Capac überstreifte - völlig in Unkenntnis der Tatsache, dass er damit ein Sakrileg begeht.
    Außerdem: Wenn uns allen scheint, dass die Inkas ja im Prinzip gar keine so üblen Kerle sind, sie Tim und Co. aber trotzdem mehr zur Einhaltung überlieferter Normen denn aus eigener Überzeugung hinzurichten meinen müssen, lässt sich deren Wertesystem mE schon mit verknöchert (oder ähnlichen Adjektiven) beschreiben (unter psychologischen Gesichtspunkten fiele mir eine auch nicht gerade schöne Vokabel ein: zwanghaft; die Normen müssen eingehalten werden, ob das den Inkas selbst gefällt oder nicht).

    "Kampf" klingt zwar tatsächlich kriegerisch (auch wenn ich nur von Kampf gegen ein System geschrieben habe), aber vergessen wir nicht: für Tim und Haddock (Bienlein außen vor, der kapiert ja mal wieder nix ) geht es tatsächlich ums nackte Überleben.
    Da das ganze so glimpflich ausgeht und die Scheiterhaufenszene durch Bienlein humoristisch gebrochen wird, erscheint die Szene nur nicht so ernst wie sie eigentlich ist (sicher auch mit Blick auf das jüngere Publikum).

  21. #96
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    Die meisten Kulturen die Ihren Staat und Ihre Gesetze auf Religion aufbauen sind heute, wie auch in der Vergangenheit sehr starr in Ihren Richtlinien.

    Oft ist es einfach nur die engstirnige Auslegung der angebeteten Religion, die Ihr Volk und deren "Sitten"-Wächter zu solch rigorosem Handeln führt.
    Da sind die Inkas dann wirklich keine Ausnahme.

    Anders sehe ich denn Fall z.b. bei den Buddhisten gelagert, die grundlegend ihre Religion einfach friedlicher ausleben - sehr sympathisch!

    In der Tat scheint Hergé auch eine eigene Entwicklung in seinen Arbeiten stark zum Ausdruck zu bringen. Der ehemalige Kolonialimperalismus von Tim im Kongo ändert sich doch stark in seinen späteren Arbeiten, wie @matbs schon angedeutet hat. Dennoch sei leichte Kritik angebracht, denn richtig mit der Materie oder den Kulturen auseinandergesetzt hat Hergé sich nun wirklich auch nicht.

    Im Prinzip diente es immer wieder nur als Kulisse seiner Abenteuer und Tim ging in allen Situationen als Held vom Schauplatz.
    Überbewerten möchte ich es indes wirklich nicht - geschweige denn übel nehmen, aber auch nicht in die falsche Richtung - als sog. Aufklärungsarbeit verstanden wissen!

    So sind auch im Sonnentempel einige Szenen zwar der Handlung des Abenteuers ausserordentlich zweckdienlich - aber eine nähere Betrachtung der Kultur oder auch der Natur lassen sie nicht zu.

    - massiver Einsatz der Gewehre im Dschungel
    - Überlisten der Inkas mit einem einfachen Trick
    - obwohl die Bevölkerung schweigt, findet sich im "armen" Zorrino schnell ein dankbarer und allwissender Helfer. Natürlich musste man ihm erst mal uneigennützig zu Hilfe eilen.
    - faule Polizisten

    Ich möchte mit diesen Beispielen nicht allzusehr Kritik an Hergé ausüben - aber sie zeigen doch immer noch stark die Prägung europäischer Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts! Hier werden noch stark Vorurteile oder besser vorgefertigte Meinungen in die Geschichte transportiert. Und wenn man weiss, daß Hergé viele Länder auch noch von Büchern vom Beginn des
    20.Jahrhunderts kennt - ist es auch nachvollziehbar, sprich wenig verwunderlich.

    Aber es gibt natürlich viele andere Beispiele, oft noch viel drastischere - deswegen möchte ich diese Meinung nicht überbewertet verstanden wissen.

  22. #97
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    Zitat Zitat von Matbs
    Wie war das eigentlich beim der Blake & Mortimer-Stammtisch (ich gucke jetzt aus Faulheit nicht selbst nach...): Hat sich da jemand an der unglaublich hahnebüchenen gedankenkontroll-Erfindung gestört, mit der Olrik zum willenlosen Supermann wird? Wenn nein, warum eigentlich nicht?
    Ich schließe mich Deiner Faulheit an und sage aus meiner Erinnerung heraus.
    Nein, es hat sich niemand daran gestört - und für meinen Geschmack war es sehr gelungen von E.P. Jacobs, eine solche Apparatur, die es ja nicht gibt, so detailgetreu und mit viel Inspiration zu erfinden.
    Dazu gehört schon sehr viel Erfindungsreichtum zumindest bezogen auf technischer Ebene.

    Man muß halt nur aufpassen, daß man solche Sachen beim Lesen richtig einstuft und es nicht als bare Münze bewertet.

    Blöd ist aber schon, daß es diese Puppen in der Voodoo-Religion halt gibt und auch Hergé wird es bei seinen vielen Studien nicht entgangen sein - da bezweifle ich Deine These stark, daß ihm das nicht so bewußt war.

    Er hat sie schon gezielt eingesetzt um das Mysterium der schlafenden Wissenschaftler aufzuklären. Ich fand es nicht so störend wie @felix - aber einer näherer und tiefergreifenden Betrachtung hält es eben auch nicht stand.
    Da wäre ein fuchtelnder Priester - oder etwas magischeres wie ein Orakel oder etwas Druidenhaftes sicherlich glaubwürdiger gewesen.
    Geändert von hipgnosis (16.03.2006 um 10:03 Uhr)

  23. #98
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    Original geschrieben von Matbs:
    Entsprechend müsste man sich fragen: Wäre das ganze vielleicht leichter zu glauben, wenn die Inkas als technisch hochentwickelte Kultur portraitiert würden, die die Forscher mittels einem Gehirnwellen störenden Psi-Sender bestrafen? Paradoxerweise vielleicht ja, obwohl es ja eigentlich von der Realität noch viel weiter entfernt wäre.
    Wie war das eigentlich beim der Blake & Mortimer-Stammtisch (ich gucke jetzt aus Faulheit nicht selbst nach...): Hat sich da jemand an der unglaublich hahnebüchenen gedankenkontroll-Erfindung gestört, mit der Olrik zum willenlosen Supermann wird? Wenn nein, warum eigentlich nicht?
    Wollte auch noch mal darauf eingehen:

    Der Unterschied zwischen dem Tim-Voodoo und der Blake und Mortimer-Gedankenübertragung liegt für mich in der Art, wie die Autoren Glaubwürdigkeit oder zumindest "suspension of disbelief" transportieren bzw. zu transportieren versuchen.
    Die Distanz zwischen beiden Phänomenen ist so groß wie die zwischen SF- und Fantasy-Literatur und der Grund warum ich das erstere hin und wieder recht gerne, das letztere so gut wie nie lese.

    Der SF-Autor gibt sich Mühe den "Schein zu wahren". Er ersinnt eine pseudowissenschaftliche Erklärung (Zusammenspiel von Science und Fiction) und muss dann hoffen, dass dieser Leim seine künstlich geschaffene Welt zusammenhält.
    Dies gelingt am einfachsten dann, wenn der wissenschaftlich überforderte Leser die Erklärung nicht nachvollziehen kann, doch die hierfür verwendeten Begriffe den Anschein von Seriosität wahren und/oder wenn Fakt und Fiktion in der richtigen Mischung zueinander stehen.
    Anspruchsvoller wird es, wenn der Autor sich die Mühe macht, eine Erklärung zu bereiten, die tatsächlich (nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft) haltbar oder zumindest nicht widerlegbar ist. Dann können seine Spekulationen, seine Extrapolationen, eintreten.
    Und wir wissen ja: Manche Science Fiction war schon verdammt nahe an der Wirklichkeit, was wohl kein Fantasy-Roman für sich in Anspruch nehmen kann und will.

    Der SF-Autor muss der geschicktere Lügner sein: Er erzählt uns Halbwahrheiten und hofft, dass der Leser sie ihm abkauft. Er muss eine stringente Welt aufbauen und den Eindruck erwecken, dass auch in dieser kein Naturgesetz außer Kraft gesetzt wird.
    Der Fantasy-Autor gibt den Münchhausen. Er erzählt uns Märchen und verlangt, zu glauben. Er braucht sich an keine Regel zu halten, kann, wenn es ihm gefällt, mit einem Schwung seines Zauberstabs alle Naturgesetze auf den Kopf stellen.

    SF erlaubt eine teilweise, Fantasy die nahezu totale Realitätsflucht.

    Um den Bogen zurück zu finden. Natürlich ist Tim nicht mit einem Fantasy-Roman oder –comic vergleichbar. Aber die Gründe, die dazu führen, dass ich gegenüber Esoterischem usw. kritisch eingestellt bin, sind die gleichen.
    Für alles, was ins esoterische, mystische, übernatürliche, paranormale geht, hast Du bereits einen Begriff - allerdings in anderem Zusammenhang – eingeführt, der in den meisten derartigen Fällen sehr gut passt: Deus-ex-Machina.
    Der Geist wird mir allzu oft etwas fahrlässig aus der Flasche gelassen.
    Dabei das Wundervollste: Der Autor muss nicht mal eine Erklärung dafür liefern:
    Wenn der Held zaubern kann, dann muss diese Feststellung genügen, alle Zweifel hinweg zu fegen. Basta !
    Und wenn man eine Nadel durch eine Wachsfigur steckt, tut’s dem so dargestellten Menschen am anderen Ende der Welt nun mal weh. Amen. Punkt, Ende, Aus.
    Obwohl der Leser es (abgesehen von ein paar esoterischen Spinnern) besser weiß, wird von ihm "suspension of disbelief" verlangt.
    Notfalls wird auch Shakespeare bemüht und mit ihm eingestimmt, es gäbe mehr zwischen Himmel und Erde als sich unsere Schulweisheit erträumen ließe.
    Wer will diesem kompetenten Zeugen der Sache schon widersprechen ?
    Böswillig könnte man die Frage zu dem esoterischen Moment einer Geschichte natürlich auch anders stellen: Soll ich meinen Unglauben unterdrücken oder mich einfach nur doof stellen ?

    Du hast Recht: In Tim geschieht das in Maßen und in der Regel ist das übernatürliche Element nicht ausgangsentscheidend, für die Geschichte nicht übermässig relevant, weswegen es mich auch nicht sehr stört, aber stören tut’s.

  24. #99
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    @ felix: Ist das alles? Ich warte immer noch auf meine Anerkennung für die Absätze .


    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    Verknöchert: Bedenke, dass Bienlein mit dem Tod bestraft werden soll, nur weil er den Armreif des Rascar Capac überstreifte - völlig in Unkenntnis der Tatsache, dass er damit ein Sakrileg begeht.
    Außerdem: Wenn uns allen scheint, dass die Inkas ja im Prinzip gar keine so üblen Kerle sind, sie Tim und Co. aber trotzdem mehr zur Einhaltung überlieferter Normen denn aus eigener Überzeugung hinzurichten meinen müssen, lässt sich deren Wertesystem mE schon mit verknöchert (oder ähnlichen Adjektiven) beschreiben (unter psychologischen Gesichtspunkten fiele mir eine auch nicht gerade schöne Vokabel ein: zwanghaft; die Normen müssen eingehalten werden, ob das den Inkas selbst gefällt oder nicht).
    Ok, wie gesagt, ich seh´s ein bisschen anders: Die Inkas haben ein Gesetz, und das wenden sie an (das machen die meisten Kulturen übrigens so). Dass dieses Gesetz unabhängig vom individuellen Vorwissen des "Straftäters" angewendet wird, würde ich nicht als "verknöchert" bezeichnen, denn das Prinzip "Unwissenheit schützt nicht vor Strafe" gilt in unserer Rechtsprechung meines Wissens ja auch.

    Kommen wir zur Frage des Strafmasses. Da haben die Inkas eine eindeutige und ziemlich drastische Strafe, die nach unserem Rechtsverständnis viel zu hart ist. Dass sie diese Strafe haben, ist aber m.M.n. auch kein Zeichen von "verknöchert", sondern nur Zeichen einer anderen Werteordnung - es ist anders und erscheint uns hart, aber bloss weil etwas fremdartig ist, ist es nicht verknöchert.

    Bleibt also die Frage, ob die Inkas ihr Gesetz tatsächlich gegen besseres Wissen und ihre ethisch-moralische Grundhaltung anwenden, ohne was dagegen tun zu können. Hmja. Vielleicht so ein bisschen. Sie stellen zwar fest, dass Tim kein übler Kerl ist, aber das allein reicht nicht, um das Gesetz ausser Kraft zu setzen. Genauso läuft es doch eigentlich auch bei uns, oder? Auch wenn du aus lauteren Motiven eine Straftat begehst und eigentlich ein grundehrlicher netter Typ bist, bestraft wirst du i.d.R. trotzdem. Ist unsere Gerichtsbarkeit deswegen verknöchert (wenn du gemein bist, antwortest du jetzt mit "ja", dann kann ich nix mehr sagen )? Na gut, bei uns gibt es manchmal sowas wie mildernde Umstände, aber reicht die blosse Tatsache, dass die Inkas das nicht haben, um sie "verknöchert" zu nennen?

    Insgesamt finde ich hier eher, dass die Inkakultur als anders, aber in ihren Handlungen trotzdem rational und konsequent dargestellt wird - für mich ist da weniger Verknöcherung, sondern eine Kultur, die ihre Regeln genauso ernst nimmt, wie wir unsere (auch wenn sich die Inhalte dieser Regeln radikal unterscheidet) - und das wertet die Inkas in meinen Augen eher auf, denn es macht sie ernstzunehmender und ihrer Andersartigkeit glaubwürdiger.


    Zitat Zitat von felix da cat Beitrag anzeigen
    "Kampf" klingt zwar tatsächlich kriegerisch (auch wenn ich nur von Kampf gegen ein System geschrieben habe), aber vergessen wir nicht: für Tim und Haddock (Bienlein außen vor, der kapiert ja mal wieder nix ) geht es tatsächlich ums nackte Überleben.
    Da das ganze so glimpflich ausgeht und die Scheiterhaufenszene durch Bienlein humoristisch gebrochen wird, erscheint die Szene nur nicht so ernst wie sie eigentlich ist (sicher auch mit Blick auf das jüngere Publikum).
    Wie gesagt, ich glaube nicht, dass ein Kampf gegen ein System ist, denn das würde bedeuten, dass Tim und co. um zu gewinnen das System ändern oder zumindest übertölpeln müssten. Und wenn das so wäre, würde es weiterhin bedeuten, das des gegnerische System entweder schlecht genug ist, um einer Änderung zu bedürfen, oder dumm genug, um sich übertölpeln zu lassen (und ja, zumindest letzteres könnte man vielleicht hier sehen, aber es ist ja keine Übertölpelung auf die Kosten besagter Kultur und ihre Dummheit und Minderwertigkeit entlarvt, sondern eher das genaue Gegenteil).
    Vielmer ist es ist eine Auseinandersetzung in einem System. Es geht nicht um "Tims Werte und Rechtsverständnis" vs. "Rechtsverständnis und Werte der Inkas", sondern es geht darum, common ground zu finden, der beides akkomodiert. Die grundlegende Validität der andersartigen Inkakultur, oder auch nur ihres drakonischen Gesetzes, wird m.M.n. nicht in Frage gestellt. Anstatt das, was wir vielleicht als ungerecht empfinden als grundlegend falsch zu entlarven und aus der Inkakultur zu entfernen (was ich im Übrigen als hochproblematisch ansehen würde, da damit eine Wertigkeitssaussge zum Verhältnis der Inkakultur zur implizit hinter Tim und auch dem Leser stehenden westlichen Kultur gemacht wäre), findet eher eine Umdeutung der spezifischen Ereignisse statt, die dem Kontext Inkakultur respektiert.
    Eine letztendliche "Verbesserung" der Inkakultur oder auch nur des fraglichen Gesetzes gibt es daneo aber nicht - wenn es sie gäbe, fände ich sie auch irgendwie arrogant, denn sie würde implizieren, dass die Inkakultur, die es über Jahrhunderte geschafft hat, sich der Vermischung mit der "anderen" Kultur zu entziehen, einen inhärenten Fehler hat, der durch den heilsamen Einfluss eines Vertreters dieser anderen Kultur nun "geheilt" wurde - aber das wäre ja wieder Anpassung an eine unserer Normen, die damit als "besser" oder "erstrebenswerter" dargestellt wäre.
    Stattdessen finde ich, dass die Lösung beide Kulturen respektiert: Sie ändert nicht grundlegend die fremdartige Lebensweise der Inkas, zwingt aber andererseits auch Tim und co. nicht deren Normen auf (was ja auch lethal wäre...) - und diese Lösung seit der Gefangennahme vorbereitet wird, und sich die Frage, welche Kultur letzten Endes besser oder auch nur überlebensfähiger ist, nicht wirklich stellt, finde ich den Begriff "Kampf" (der ja weiterhin Sieger und Verlierer impliziert) nicht so richtig angemessen.

    Oh je. Ich stelle gerade fest, dass wir viel Zeit damit verbringen, die Verwendung von einem Adjektiv und einem Verb zu diskutieren, und das mit Argumenten, die sich zumindest in meinem Fall so langsam zu wiederholen anfangen...
    Ich fürchte, das steuert bedenklich auf den gefürchteten kleinlichen Nebenkriegsschauplatz zu, deshalb belasse ich es lieber jetzt mal dabei und vermelde abschliessend: Ich habe deine Argumentation verstanden, bin aber trotzdem etwas anderer Meinung.



    Zitat Zitat von hipgnosis Beitrag anzeigen
    In der Tat scheint Hergé auch eine eigene Entwicklung in seinen Arbeiten stark zum Ausdruck zu bringen. Der ehemalige Kolonialimperalismus von Tim im Kongo ändert sich doch stark in seinen späteren Arbeiten, wie @matbs schon angedeutet hat. Dennoch sei leichte Kritik angebracht, denn richtig mit der Materie oder den Kulturen auseinandergesetzt hat Hergé sich nun wirklich auch nicht.
    Als beständiger Hergé-Apologist (wie auch schon zuvor Morris-Apologist), möchte ich hier nur kurz meine persönliche Grundhaltung wiederholen, die da lautet:
    "Ich finde es etwas unfair, einem Autor vorzuwerfen, dass er vor sechzig Jahren nicht genau den Tenor unserer heutigen Befindlichkeiten trifft. Stattdessen sollten wir ihn dafür loben und bewundern, wie sehr er vor sechzig Jahren die Befindlichkeiten und Dünkel seiner eigenen Zeitgenossen überwand. Bloss weil heute jemand etwas altbacken und nicht immer ganz politisch korrekt wirkt, heisst das nicht, dass er nicht zu seiner Zeit überraschend liberal und visionär dachte - und dafür sollte man ihn würdigen, anstatt ihn zu kritisieren dass er nicht 2006 lebt.
    Also: Seht Hergé als jemanden, der seiner Zeit voraus, und nicht unserer Zeit hinterher ist!"


    Zitat Zitat von hipgnosis Beitrag anzeigen
    Ich schließe mich Deiner Faulheit an und sage aus meiner Erinnerung heraus.
    Nein, es hat sich niemand daran gestört - und für meinen Geschmack war es sehr gelungen von E.P. Jacobs, eine solche Apparatur, die es ja nicht gibt, so detailgetreu und mit viel Inspiration zu erfinden.
    Dazu gehört schon sehr viel Erfindungsreichtum zumindest bezogen auf technischer Ebene.
    Ich find´s ja auch nicht schlimm, aber es beweist halt so ein bisschen, dass wir vielleicht eher bereit sind, das Unmögliche zu akzeptieren, wenn uns eine wissenschaftliche Erklärung angeboten wird, selbst wenn diese Erklärung dann von ihrer tatsächlichen Validität nicht besser ist als "ist halt Zauberei" (ich denn das mal das "Star Trek"-Phänomen, denn da gibt´s ja auch immer wieder total blöde Lösungen, bei denen irgendwer den doppelt-gepolten Gammastrahlen-Emitter mit der Antimaterie-Kammer verbindet um so einen Doppelhelix-Tetrion-Impuls zu erzeugen, mit dem das jeweilige Problem dann zufällig gelöst werden kann )


    Zitat Zitat von hipgnosis Beitrag anzeigen
    Blöd ist aber schon, daß es diese Puppen in der Voodoo-Religion halt gibt und auch Hergé wird es bei seinen vielen Studien nicht entgangen sein - da bezweifle ich Deine These stark, daß ihm das nicht so bewußt war.
    Vielleicht war es ihm bewusst - aber ich bin dennoch nicht der Meinung, dass die heute in der allgemeinen Vorstellung sehr enge Verbindung zwischen dem Konzept der "sympathetic Magic" und dem Voodoo-Kult schon in den 40igern so existierte. Vielmehr glaube ich, dass die Wachspuppen für Hergé und vielleicht auch seine Zeitgenossen eben einfach "Zauberei" waren, ohne dabei sofort dieselbe starke Voodoo-Assoziation hervorzurufen, die wir heute haben, und das Hergé folgerichtig auch nicht fürchten musste (oder konnte), das bestimmte Klischeebild (komplett mit schwarzen Hühnern, Zombies, sowie Baron Samedi, Papa Legba und den anderen Loa) im Kopf seiner Leser zu erzeugen, die die Puppen heute bei uns hervorrufen. Ich glaube, dass er sich nicht sowas dachte wie "Voodoo, das gehört eigentlich nicht hierher, aber das merkt ja keiner", sondern eher sowas wie "Magische Puppen, das ist ja total nachvollziehbar, warum nicht) - und wie gesagt, durch diese physische Manifestation wird der Fluch wirklich viel besser darstellbar.
    Und wenn Hergé was "Druidischerers" gewählt hatte, würden sich wahrscheinlich heute alle beschweren, dass er sich hier bei den Kelten bedient hat, die ja überhaupt nix mit den Inkas zu tun haben...

  25. #100
    Mitglied Avatar von Matbs
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    @ felix: Nur ganz kurz, denn sonst würde das in eine philosophische Grundsatzdiskussion führen, die hier nichts mehr zu suchen hat und zu weit führt: Ich teile deine Einstellung zu Sci Fi und Fantasy nicht und sehe das ganze entsprechend anders. Wenn ich kurz Arthur C. Clarke zitieren darf:
    "Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic".
    Das gilt hier m.M.n. ganz besonders: Wenn die Inkas hier eine technologische Möglichkeit hätten, die Forscher zu bestrafen, würde das an der Geschichte nichts, aber auch gar nichts ändern. Die Rolle der Inkas, und die Rolle ihrer "unglaublichen" Fähigkeiten wäre noch haargenau dieselbe. Der Leser müsste immer noch akzeptieren, dass sie grundsätzlich etwas eigentlich Unmögliches können. Der Ansatz der SciFi wäre lediglich, uns vorzugaukeln, dass dieses Unmögliche aus unserer täglichen rational-technologischen Lebenswelt entspringt, während das fantastische es jenseits dieses rational-technologischen Diskurses verortet. Aber grundsätzlich bleibt es trotzdem unmöglich, seine narrative Rolle ist unabhängig von seiner Erklärung.
    SciFi ist vielleicht etwas leichter zu glauben, aber glauben müssen wir trotzdem noch, entsprechend empfinde ich persönlich die Grenzen zwischen SciFi und Fantasy als sehr fliessend und oftmals eher künstlich.
    Übrigens, felix - du bist doch auch Superheldenleser, oder? Die Qualität der da gefundenen Erklärungen für Superkräfte (Gamma-Strahlen, radioaktive Spinnen, seltsame Chemikalien, spontane genetische Veränderungen) ist doch eigentlich reinste Fantasy, nur mimal kaschiert mit einem winzigen Feigenblatt pseudowissenschaftlicher Grundbegriffe, oder? Und hast du nicht auch gerade neulich was positives über den "Sandman" geschrieben? Muss doch eigentlich ziemlich hart gewesen sein, sich durch Gaimans mystisches fantasy-Geschreibsel zu kämpfen, mit dem ständig der Intellekt des Lesers beleidigt wird, weil es nicht mit der Existenz eines ionischen Fluxphasenkonverters in einer wissenschaftlich nachvollziehbaren Realität verankert wird... (Sorry, das war jetzt unendlich kindisch, kleinlich und doof, aber ich konnt´s mir nicht verkneifen - bitte nimm´ es mir nicht übel, es ist wirklich nicht böse gemeint, ehrlich!
    Es tut mir leid, und du hast jetzt auch einmal Sticheln bei mir gut... )


    So, wie gesagt, mehr möchte ich dazu eigentlich nicht sagen, diese Diskussion führt glaube ich zu nichts, und eignet sich aufgrund der eventuell dahinterstehenden weltanschaulich-philosophischen Grundhaltungen nicht besonders für ein Internet-Forum, entsprechend belasse ich es dabei und denke lieber noch über etwas nach, was mir schon länger Gedanken macht, und was zu "Deus Ex Machina" passt: Die Rolle des Zufalls in Hergés narrativem Konzept!
    Geändert von Matbs (16.03.2006 um 14:00 Uhr)

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