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7:50 Uhr: Bleib liegen. Schlaf einfach weiter. Lass es sein. Es bringt doch nichts.

8:00 Uhr: Ich halte es nicht mehr aus. Ein Sprung unter die Dusche. Brötchen geholt. Während des Frühstücks bin ich ständig Versuchen ausgesetzt, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Nach meinen Hinweis, dass ich unter Zeitdruck stehe, ernte ein hämisches Lächeln und diverse Sprüche, während es sich Sohnemann weiter im Bett gemütlich macht.

8:54 Uhr: Schwinge mich auf mein Fahrrad.
Das ist mein Tag. Noch kein Verkehr. Von dem Angebot einiger Ampeln, eine kurze Pause einzulegen, mache ich keinen Gebrauch.

8:57 Uhr: Ich habe es gleich geschafft. Nur noch Sekunden und ich stehe vor dem Buchladen.

2 Sekunden später: Ich sehe eine Menschenmasse in den Buchladen drängen. Ich fühle die ersten Schweißperlen. Innerlicher Zusammenbruch. Die öffnen sonst nie vor 9:00 Uhr. Im Eiltempo schließe ich mein Fahrrad an und sprinte zum Eingang in der Hoffnung, das die Schlange noch im Geschäft endet. Komme dann VOR dem Geschäft zum Stehen. Bin der erste, der es nicht mehr in den Buchladen schafft. Super.

9:05 Uhr: habe es mittlerweile ins Geschäft geschafft. Hinter mir ein Nerd-Pärchen. Beide im Standardoutfit. Alles in Schwarz. Beide Mitte 20. Er versucht sie anzubaggern. "Habe manchmal Migräne." Bin mir nicht sicher, ob das die richtige Strategie ist. Er legt nach: "Als ich neulich zur Arbeit fuhr, musste ich wegen eines Migräneanfalls gleich wieder umkehren." Sie heuchelt Mitleid: "Ja, ist schon schlimm." Er wittert Morgenluft: "und mit Migräne nachts nach Hause fahren, ist auch nicht der Hit". Sie sagt, sie wolle unbedingt Spidy haben. Er ist der Auffassung, das Migränethema noch nicht ausreichend vertieft zu haben. Ich wäge gerade meine Chancen ab und überlege, ob ich mich umdrehe, da bemerke ich, dass sich der Tisch mit den Comics nähert. Ich konzentriere mich wieder auf das Wesentliche.

9:12 Uhr: vor mir ein schwarz gekleideter Nerd. Mit Jutebeutel. Er steht jetzt vor dem Tisch. So viele Comics. Große Überraschung. Ist ja auch erst seit ein paar Woche im Internet nachzulesen. Die Plakate kann man auch mal übersehen. Und dann die zweite böse Überraschung. Man muss eine Auswahl treffen. Wie jedes Jahr. Nur ein Kreuz oder 5 Comics. Da sie vergessen haben, die Kreuze auszulegen, muss er sich entscheiden, welche Comics er nehmen will. Er ist überfordert. Er macht nicht den Eindruck, dass er in seinem Leben, überhaupt schon einmal eine Entscheidung getroffen hätte. Und jetzt auch noch der Zeitdruck. Ich habe kein Mitleid. Ich muss die Sache hier schnell hinter mich bringen. Ein zweites Geschäft wartet. Eine zweite Chance! Ich bin boshaft und sage es Nerdi vor mir nicht. Jeder ist sich selbst der Nächste. Pech für dich. Die Menge hinter ihm wird ungeduldig. Er weiß, er wird die falschen auswählen. Er zuckt noch einmal, legt ein Heft zurück und nimmt sich ein anderes. Aus. Vorbei. Er wird abgedrängt. Er hat - wie jedes Jahr- verloren. Schei.. Leben. Er verschwindet, bevor ich ihm den Tipp geben kann, es bei der Frau hinter mit zu versuchen.

9:13 Uhr: Ich schnappe mir 5 Hefte. Setze mein freundlichstes Lächeln auf. "Könnte ich eventuell noch ein sechstes für meinen kleinen, armen Sohn mitnehmen, der mich krankheitsbedingt leider nicht begleiten konnte?" Von hinten höre ich hämische Bemerkungen: "Denk dir mal ne neue Ausrede aus. Jedes Jahr die gleiche Masche". Tja, ich weiß, dass das gelogen war. Aber die Aufsicht hinter dem Tisch ist neu. Die kennt mich noch nicht. Adrett, mit einem eng anliegenden Shirt "Gratis Comic Tag 2019" bekleidet, wirft sie mir nur ein mitleidiges Lächeln zu. Ich gebe auf. Stecke die 5 Hefte ein und laufe zu meinem Farhrrad.

9:15 Uhr: unterwegs zu der Filiale eines großen deutschen Buchhändlers. Werde von jemanden überholt, der vorhin irgendwo hinter mir in der Schlange stand. Ich erkenne ihn an dem Rucksack, der Winterjacke und dem Fahrradhelm, den er auch im Geschäft nicht abgenommen hat. Die Frisur muss schließlich sitzen. Wahrscheinlich benutzt er kein 3-Wetter-Taft. Gebe Gas. Ich darf mich nicht abhängen lassen. Schaffe es gerade noch einer Oma auszuweichen. Warum muss sie auch zu dieser Zeit in der Fußgängerzone unterwegs sein? An der nächsten Ampel habe ich Fahrradhelm eingeholt. Wir wissen beide, dass es jetzt ums Ganze geht. Ich mache mich bereit. Gleich wird’s grün. Er fährt schon vorher los. Mist. Den Vorsprung hole ich nicht mehr auf.

9:19 Uhr: Treffe ihn im Einkaufszentrum vor dem Geschäft wieder. Er grinst. Er weiß, dass er gewonnen hat. Möchte ihm am liebsten den Helm abnehmen und die Rolltreppe runterkicken. Lass es dann aber sein. Zu viele Zeugen. Großes Getümmel vor dem Geschäft. Sie öffnen erst um 9:30 Uhr.

9:25 Uhr: Die Verkäuferinnen im Geschäft sind überrascht. Mit dem Andrang haben sie ersichtlich nicht gerechnet. Nehmen zum ersten Mal teil.

9:30 Uhr: Sie öffnen. Es bildet sich eine Schlange vor der ersten Tür. Alle warten darauf, dass der Startschuss fällt. Als die letzte Tür geöffnet ist, winkt eine der Verkäuferin und gibt damit das Signal. Alle stürmen hinein. Schlange war gestern. Jetzt ist Kampf angesagt. Sozialdarwinismus pur. Die einzige Regel: es gibt keine Regeln. Kein Limit. Jeder kann soviel mitnehmen, wie er tragen kann. Schlussverkauf bei C&A war dagegen Kindergeburstag. Die ersten haben anscheinend den Tisch mit den Comics gefunden, weil die Masse plötzlich die Richtung ändert und sich zu einem bestimmten Punkt bewegt. Ich bin trotz diverser Bodychecks immer noch hinten dran. Dann öffnet sich für einen kurzen Moment ein Sichtfenster. Ich erkenne einen RUNDEN Tisch, wo die Comics um einen Mittelständer ausgelegt sind. Sämtliche Plätze vor dem Tisch belegt. Gefühlte 100 Leute davor. Mir wird sofort bewusst, dass es schwer wird. Sehr schwer. Jetzt wird mir auch klar, warum Fahrradhelm denselbigen nicht abgesetzt hat. Die Verkäuferinnen halten vorsichtshalber Sicherheitsabstand. Wahrscheinlich überlegen Sie, ob sie Wetten anbieten solllen, wer es wieder heil aus dem Laden schafft.

9:45 Uhr: im Krankenhaus fragt mich jemand, ob ich ihn erkennen könne und ob ich meinen Namen noch wisse. Ich weiß nur, dass ALLE Comics in meiner Tasche sind. Das war es wert. Wie immer nehme ich mir fest vor, nächstes Jahr einfach im Bett liegen zu bleiben. Nächstes Jahr werde ich es schaffen. Ganz bestimmt.
hihi genial die Zusammenfassung